Zur Struktur, Ausprägung
und Wirkung der nationalsozialistischen "Organisationskultur"
von Michael von Prollius
"Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung?", fragte Friedrich Pollock 1941
am Institut für Sozialforschung in New York.1
Die Entwicklung eines neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, das
eine neue institutionelle Qualität hervorbrachte, lässt den Nationalökonom und
Soziologen diese Frage bejahen. Als "Staatskapitalismus" - im Gegensatz zum
Monopolkapitalismus der Weimarer Zeit - sei diese Ordnung gekennzeichnet durch
eine "Befehlswirtschaft" und eine "Befehlsgesellschaft".2
Über 60 Jahre später gibt es kein allgemein akzeptiertes Interpretationsmuster,
das die Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise des Nationalsozialismus zu
erklären vermag. Die "Umstrittene Vergangenheit"3
ist Gegenstand zahlreicher Geschichtsinterpretationen und Kontroversen,4
die bei der Deutung des Nationalsozialismus unterschiedliche Methoden verwandt
und Akzente gesetzt haben: Faschismus, Hitlerismus, Nihilismus, Totalitarismus,
soziale Revolution, politische Religion, Ergebnis eines Bündnisses in einem Unstaat,
Doppelstaat, Rassenstaat, so lauten einige Schlagworte, mit denen rivalisierende
Konzepte zur Erklärung des Nationalsozialismus verbunden sind. Ian Kershaw kommt
auf Grund der Komplexität des historischen "Phänomens" und seiner Erforschung
zu der Schlussfolgerung: "Eine angemessene Erklärung des Nationalsozialismus
dürfte in der Tat intellektuell nicht zu leisten sein."5
Die ersten beiden viel beachteten deutschen Nachkriegsinterpretationen der Katastrophe
des "Dritten Reiches" standen noch ganz in der Kontinuität des deutschen historiographischen
Sonderwegs, dem Historismus.6 Der
Historismus betrachtete kulturelle Erscheinungen aus der Perspektive und unter
der Annahme der spezifischen geschichtlichen Einzigartigkeit ihrer Entstehungen,
Bedingungen und Entwicklungen. Als vorherrschende Bewegung hatte der Historismus
Ende des 19. Jahrhunderts eine grundsätzliche Historisierung des Menschen, seiner
Kultur und seiner Werte betrieben. Abgelöst hat diese geistesgeschichtliche Historiographie,
beginnend in den 1960er Jahren, eine makrohistorisch orientierte Gesellschaftsgeschichte.
Sie stand dem Historismus insofern unversöhnlich gegenüber, als sie die Ursachen
und Triebkräfte historischer Entwicklungen in sozialgeschichtlichen Strukturen,
Ereignissen und Prozessen begründet sieht.7
Stark vereinfacht formuliert wurde dem Primat der Politik in der Geschichtsschreibung
der Primat der Gesellschaft entgegengestellt.
In jüngster Zeit hat es nun eine Hinwendung zu kulturellen Ansätzen gegeben, mehren
sich die Anzeichen für einen "cultural turn".8
Wichtige Elemente dieser kulturalistischen Wende sind den gleichwohl zunehmend
enthistorisierten9 Wirtschaftswissenschaften
entlehnte institutionentheoretische oder institutionenökonomische Ansätze.10
In den Wirtschaftswissenschaften, besonders der Betriebswirtschaftslehre, wird
seit geraumer Zeit auf die Bedeutung kultureller Phänomene verwiesen. Ein gut
erforschtes Beispiel ist die Unternehmenskultur, die Unternehmen und andere Organisationen
primär als soziale und damit kulturelle Systeme begreift.11
Wir werden darauf zurückkommen.
Im Zuge der Debatten über den Charakter und die potenziellen Konsequenzen der
Globalisierung einerseits sowie den zunehmenden Forderungen nach interdisziplinären
Arbeiten andererseits ist das Interesse an kulturhistorischen Arbeiten auch in
den Geisteswissenschaften und damit den Geschichtswissenschaften gewachsen.12
Gleichwohl ist der Nationalsozialismus von derartigen Untersuchungen bisher weit
gehend ausgeklammert geblieben.13
Die bereits in den frühen 1960er Jahren von Hermann Glaser vorgelegte und heftig
umstrittene Kulturanalyse unter dem beißenden Titel "Spießer Ideologie" ist
eine spezifische Ausnahme, die der Entwicklung einer antihumanen Geisteshaltung
des politischen Menschen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nachspürt.14
David Schoenbaum hat wenige Jahre später die soziale Wirklichkeit des "Dritten
Reiches" analysiert.15 In jüngster
Zeit gibt es zudem soziologische Studien mit historischem Kontext, etwa mit dem
Fokus Volksgemeinschaft.16 Zudem
erfreut sich eine Forschungsrichtung wachsendem Interesse, die detailliert regionale
und kommunale Aspekte einschließlich Festkultur und sozialmoralischen Milieus,
daneben auch kollektive Phänomene wie Riten und Aufmärsche untersucht.17
Gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Politik und Kultur erfährt das umstrittene
Konzept der Deutung des Nationalsozialismus als politische Religion eine Renaissance.
Seine Anhänger interpretieren den Nationalsozialismus mit seinem politischen Glauben
und seinen weltlichen Heilsversprechen als Folge einer tiefen geistigen Krise
der Zeit.18 Eine ganzheitliche
kulturgeschichtliche Forschungsrichtung hat sich jedoch noch nicht etabliert.
Die NS-Forschung hat in ideologiegeschichtlicher Hinsicht die eng miteinander
verbundenen Fragen nach der Konsistenz der nationalsozialistischen Ideologie und
ihrer handlungsleitenden Rolle diskutiert. Ohne auf den Streit der "Intentionalisten"
und "Funktionalisten" eingehen zu wollen,19
wird nachfolgend die Auffassung vertreten, dass die Nationalsozialisten zwar über
keine konsistente Theorie, über kein kohärentes Lehrgebäude einer Ideologie verfügt
haben, aber trotz unterschiedlicher Auffassungen der wichtigsten Ideologen Hitler,
Rosenberg, Darré, Himmler und Goebbels eine fragmentarische und doch konzise utopische
Ideologie nicht nur durch Hitler integriert wurde, sondern auch als immanente
Kraft handlungsleitend wirksam war.20
Diese Umsetzung der kruden und alles Herkömmliche umstürzenden Weltanschauung
kennzeichnet das Wesen und die Entwicklung des Dritten Reiches. Nach wie vor fehlen
jedoch institutionentheoretische Arbeiten, die den strukturellen Veränderungen
der Gesellschaft, der Frage eines möglichen Kulturwandels mit dem Vordringen der
Nationalsozialisten in alle gesellschaftlichen Bereiche nachzuspüren vermögen.
Dabei hatte bereits Wolfgang Wippermann darauf hingewiesen, dass eine Analyse
der Ideologie nur im Gesamtzusammenhang des NS-Systems messbare Erkenntnisfortschritte
liefert, da die Ideologie in besonderem Maße untrennbar mit den realhistorischen
Prozessen verknüpft sei.21
Weitgehend unbeachtet blieb die kulturelle Dimension auch bei der Analyse der
Wirtschaftspolitik und des Wirtschaftssystems der Nationalsozialisten. Dies ist
umso bedauerlicher, als die enge Verflechtung von Kultur und Wirtschaft eine seit
langem bekannte und weit verbreitete Auffassung ist, die bereits frühzeitig von
Max Weber und später auch von Alfred Müller-Armack prägnant heraus gearbeitet
wurde.22 So ist eine Wirtschaftsweise
stets eingebunden in einen Gesellschaftsentwurf, ein Verständnis der Welt, das
auf einer kulturellen Grundhaltung beruht.23
Die Forschung hat sich statt dessen auf die kontrovers diskutierte Frage nach
der Existenz eines Konzepts der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik und
die ökonomischen Kenntnisse der Nationalsozialisten sowie die Planhaftigkeit bzw.
die Improvisation der Umsetzung fokussiert. Ergebnis ist bisher, dass die Nationalsozialisten
zwar über wirtschaftspolitische Konzepte, aber nicht über ein kohärentes Lehrgebäude
verfügt haben.24
Erklärbar ist die Ausblendung der kulturellen Dimension insofern, als sich die
überwiegende Zahl der klassischen Erklärungsversuche dem Nationalsozialismus aus
politischer, ideologischer, daneben auch ökonomischer und sozialer Hinsicht nähert.
Ideengeschichtlichen Betrachtungen haben jedoch in der Regel nicht eine Operationalisierung
der Ideologie in der alltäglichen Herrschaftspraxis und ihre Wirkung und Bedeutung
für das Handeln der Akteure sowie die Funktionsweise des NS-Systems untersucht.
Hier scheint es einen Vorbehalt zu geben, nämlich die Vorstellung als abwegig
zu erachten, dass die Vorstellungen Hitlers und der Nationalsozialisten tatsächlich
als ein gesellschaftlicher Gegenentwurf, als eine säkulare kulturelle Revolution
begriffen werden könnten, an die die Ideologen fest glaubten. - Eine Ausnahme
ist Barbara Zehnpfennig,25 die
Hitlers Denken und seine Weltanschauung ernst nimmt und sie zum Ausgangspunkt
seines Handelns macht. - Dieser Vorbehalt ist jedoch kein Fortschritt, sondern
ein Rückschritt. Um die Jahrhundertwende ist mit dem Nachlass von Jacob Burckhardt
posthum seine Griechische Kulturgeschichte erschienen, eine meisterhafte Verbindung
von typisierender und detaillierter Darstellung, in deren Mittelpunkt die drei
universalhistorischen Kräfte Staat, Religion und Kultur standen.26
Die Anknüpfung an ein solches Konzept, das unter der Ägide der Kulturgeschichte,
geistes- und mentalitätsgeschichtliche Strömungen mit soziologischen Elementen
anzureichern vermochte, verspricht aufschlussreiche Erkenntnisse über das Wesen,
den Kern des Nationalsozialismus.
Auch die allgemeine Systemtheorie27
berücksichtigt das kulturelle System. Demnach besteht ein Staat respektive eine
Gesellschaft aus (mindestens) drei separaten Teilbereichen oder Subsystemen. Es
sind dies Politik, Wirtschaft und Kultur. Die Subsysteme unterscheiden sich durch
ihre spezifische Komplexität, Struktur und Zusammensetzung, und zwar die politische
Willensbildung und Ausübung politischer Macht, die arbeitsteilige Struktur zur
Befriedigung von Bedürfnissen mittels knapper Ressourcen und schließlich die Befriedigung
geistiger, sittlicher, psychischer und ähnlicher Bedürfnisse im Rahmen vielfältiger
zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese gedankliche Teilung einer Gesellschaft
in Subsysteme lenkt den Blick zugleich auf die Interdependenz und enge Verwobenheit
der Teilbereiche. Die Schlussfolgerung, dass eine Annäherung an eine angemessene
Erklärung des Nationalsozialismus die Kultur nicht ausblenden darf, erscheint
auch aus dieser Perspektive nahe liegend.
Hinderlich erscheint aktuell das unterschiedliche Verständnis von Kultur, das
sich in divergierenden Begriffen bzw. begrifflichem Verständnis äußert. Man denke
lediglich an so unterschiedliche Kategorien wie politische Kultur, Heimatkultur,
Kultur der Moderne, Hochkultur, Arbeiterkultur, Massenkultur. Zudem ist es bisher
nicht gelungen, diese und andere unterschiedliche Erscheinungs- und Zuordnungsformen
sowie den Umgang mit ihnen durch den Nationalsozialismus systematisch zu verdichten.
Allerdings hat die Forschung herausgearbeitet, dass die Nationalsozialisten mit
einem spezifischen Kulturverständnis eine Überlagerung und Zersetzung all dieser
Formen vorgenommen haben. Die Rede ist von der Rassenlehre.28
Dies geschah nicht zuletzt unter Ausschaltung von Kulturen wie der Arbeiterkultur,
durch Umprägung von Kulturereignissen wie der Heimat- und Volkskultur oder durch
Zersetzung etwa der militärischen Kultur.
Ein zweites Hindernis ist struktureller Natur. Einerseits gibt es eine Tendenz
zu einer zunehmenden Zahl von (technischen) Detailstudien, die durch ihre Konzentration
auf materielle und personelle Elemente dazu neigen Gesamtzusammenhänge ausblenden,
andererseits droht durch eine reine Strukturgeschichte die Unterschätzung subjektiver
und geistiger Faktoren im Zuge einer Schematisierung. Das hat bisher dazu geführt,
dass ein Gesamtkonzept fehlt, um die vorliegenden verstreuten Befunde zu den kulturellen
Aspekten des Nationalsozialismus auf Basis eines Modells, einer Theorie zu integrieren.
Die nachfolgenden Überlegungen setzen an dieser Gemengelage an und verstehen sich
als eine Annäherung an eine kulturelle und institutionelle Erklärung des Nationalsozialismus,
keineswegs in selbstüberschätzender Konkurrenz, sondern als erster Schritt in
Richtung einer Ergänzung der eingangs genannten Erklärungsmodelle.29
Im Mittelpunkt stehen drei Aspekte:
1. Struktur der NS-Kultur - Überlegungen zu einem Analysekonzept
2. Ausprägung der NS-Kultur - Kulturelemente des Nationalsozialismus
3. Wirkung der NS-Kultur - Bedeutung für das Verständnis des NS-Systems.
Struktur der NS-Kultur - Überlegungen
zu einem Analysekonzept
Eine Analyse der NS-Kultur ist mit Hilfe eines der Soziologie bzw. Anthropologie
entlehnten Modells möglich. Ansatzpunkt ist die Auffassung der NS-Ideologie und
ihrer Erscheinungsformen als Kultur einer Organisation (NSDAP), als Organisationskultur
einer Bewegung, die durch eine kompakte Untersuchung auf verschiedenen Ebenen
eine Neubewertung zugänglich gemacht werden. Diesem Ansatz liegt die Annahme zu
Grunde, dass Organisationen soziale Systeme sind, die wie eine Gesellschaft aus
Gruppen von Menschen bestehen und daher ebenfalls eine Kultur besitzen.30
Unter Organisationskultur wird dementsprechend ein Muster von Denkhaltungen, Wert-
und Glaubensvorstellungen verstanden, welches das Wesen einer Organisation, ihre
spezifischen Eigenheiten und Fähigkeiten ausmacht. Um Missverständnissen vorzubeugen,
es handelt sich dabei um eine eigenständige Organisationskultur und keineswegs
um eine Widerspiegelung der Landeskultur.31
Das angesprochene Muster hat sich in einem spezifischen Lern- und Erfahrungsprozess
in der Auseinandersetzung der Organisationsmitglieder, besonders der Führungselite,
mit Problemen externer Anpassung und Durchsetzung sowie interner Integration von
Personen oder Personengruppen herausgebildet. Ergebnis eines solchen stets historischen
Erfahrungsprozesses ist ein robustes Muster grundlegender Annahmen, dass neue
Mitglieder erlernen und so weit verinnerlichen, dass - im Gegensatz zu Nichtmitgliedern
- ihre Wahrnehmung und ihr Denken durch die erlernten Muster beeinflusst wird.32
Notwendig ist die Musterbildung, sie geschieht gewisser Maßen unvermeidbar en
passant, um (für die Mitglieder) Komplexität und Unsicherheit zu reduzieren und
Stabilität zu schaffen. In systemtheoretischer Sicht ist dies zudem unerlässlich,
da es sonst keinen Unterschied zwischen der Organisation und die sie umgebenden
Umwelt gäbe.33 Die ausgebildeten
Muster sorgen also für die Integration der Mitglieder und die Koordination ihrer
Aktivitäten. Dazu werden geschriebene und ungeschriebene Gesetze, Gebote, Verbote,
Maximen, Verhaltensstandards, Richtlinien, Regeln, Rituale und Verhaltensweisen
ausgeprägt, die die Zielerreichung der Organisation erleichtern, ja zum Teil erst
ermöglichen.
Über die reine Ausbildung von Mustern hinaus spielt die Organisationskultur eine
wichtige Rolle bei der Wahrnehmung, der Interpretation und dem Verständnis der
Welt besonders im Hinblick auf die daraus folgenden Aktivitäten: "Verhalten,
Handlungen, Fakten, Situationen und Ereignisse werden durch .. [einen] Kulturfilter
wahrgenommen und auf der Basis dieses gemeinsamen Bezugsrahmen für die Organisation
sinnvoll interpretiert. Folgende Entscheidungen und Handlungen basieren auf diesen
Interpretationen und werden entsprechend den Standards dieses Bezugsrahmens geleitet".34
Mit anderen Worten lässt sich die Organisationskultur auch als eine kognitive
Struktur begreifen. Muster und Kulturfilter stehen dabei in einem reziproken Verhältnis.
So verfestigen sich richtige oder erfolgreiche Wahrnehmungen und Interpretationen
durch Wiederholung als kognitive Struktur und bilden wiederum die Grundlage für
gemeinsame Interpretationen und ein gemeinsames Verständnis des Geschehens innerhalb
und außerhalb der Organisation.
Um es zusammenzufassen: Die Organisationskultur besteht aus Mustern, die Ausdruck
der Interpretation der Welt sind und im Alltag in vielfältiger Form offiziell
und inoffiziell als Annahmen, Normen und Symbole ausgeprägt werden. Diese Eigenheiten
und Eigenschaften geben der Organisation ihr unverwechselbares Gesicht, ihre kollektive
Identität, hinter dem sich die von der Organisation, d.h. den Mitgliedern, gesammelten
Erfahrungen, das Gedächtnis und der Verstand einer Organisation verbergen. Die
Kultur einer Organisation spiegelt also so etwas wie den Charakter einer Organisation
wider. Die Entwicklungsgeschichte einer Organisation gleicht in dieser Sicht einer
Charakterbildung.
Übertragen auf den Nationalsozialismus bedeutet dies: unverwechselbare Vorstellungsmuster
haben sich in der "Kampfzeit" oder Bewegungsphase der NSDAP und in der sich
anschließenden Systemphase des Nationalsozialismus ausgeprägt und sind ein gutes
Stück weit für die nationalsozialistische Interpretation der Funktionsweise der
Welt und ihre zukünftige Gestaltung maßgeblich. Nationalsozialistisches Denken
und Wahrnehmen wird so zur Grundlage der Maßnahmen, die die Errichtung der rassistischen
Diktatur und die Eroberungs- und Vernichtungspolitik ausmachen. In einer solchen
Perspektive sind nationalsozialistische Aufmärsche, Architektur und die Ausgrenzung
Andersdenkender weitaus mehr als nur Etikette eines neuen Herrschaftssystems.
Es handelt sich dabei vielmehr um weithin sichtbare Symptome eines tiefer liegenden
und konsistenten Phänomens: der Organisationskultur der Nationalsozialisten.
Nachdem das Grundverständnis für die Bedeutung und Form der Organisationskultur
geschaffen ist, gilt es in einem nächsten Schritt ein Analysekonzept für eine
Untersuchung der konkreten Ausprägungen der Organisationskultur der Nationalsozialisten
zu schaffen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Kulturanalyse auf das Innere
der NS-Bewegung zielt. Mit anderen Worten versucht sie herauszuarbeiten wie die
Nationalsozialisten dachten, die Welt betrachteten, welche Ziele sie verfolgten
und auf welchem Weg sie diese erreichen konnten. Die erwarteten Ergebnisse können
als eine wichtige Ergänzung zu den Taten angesehen werden, weil das Wollen die
Basis für das Tun bildet. Um mit Jacob Burckhardt zu sprechen wird die Anschauung
so wichtig wie das Tun, das Ausdruck der Anschauung ist. Nachfolgend ist schon
allein aus Raumgründen selbstverständlich nur eine grobe Skizze möglich.
Das "Drei-Ebenen-Modell" von Edgar Schein35
bietet mit seiner Systematisierung sichtbarer, teilweise sichtbarer und unsichtbarer
Kulturelemente von Gruppen, Organisationen oder Unternehmen eine Art Gerüst für
eine solche Kulturanalyse. Mit seiner Hilfe lassen sich die Ebenen "Symbolsysteme",
"Normen und Standards" und "grundlegende Annahmen" untersuchen.36
Diese Ebenen bezeichnen das sinkende Ausmaß der sichtbaren Kultur(elemente). Der
Kern der Kultur besteht aus dem Muster der kaum sichtbaren grundlegenden Annahmen
über das Wesen des Menschen, seiner Handlungen und Beziehungen sowie der Beziehung
der Organisation zu ihrer Umwelt. Die grundlegenden Annahmen äußern sich in teilweise
sichtbaren, aber interpretationsbedürftigen (Verhaltens-)Normen und Standards
sowie in deutlich sichtbaren Symbolen. Alle drei Ebenen sind miteinander verknüpft
und beeinflussen sich gegenseitig.
Als zentrale Einflussfaktoren, die auf die Kultur wirken und für die Musterbildung
relevant sind, gelten der Gründer bzw. Führer der Organisation mit seinen Glaubens-
und Wertvorstellungen, aber auch seine Persönlichkeit sowie seine Vision oder
Mission. Hinzu kommen der Zeitgeist respektive historische Entwicklungen in Form
von sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Strukturen.
Die zentrale Persönlichkeit ist zweifelsohne Adolf Hitler. Zu den langfristigen
Strömungen gehören, wie wir nachfolgend sehen werden, u. a. die Völkische Bewegung,37
der nationale Sozialismus,38 der
Sozialdarwinismus.39
Die Organisationskultur der Nationalsozialisten blieb keineswegs auf die NSDAP
oder auf einen Kern "gläubiger" Nationalsozialisten begrenzt. Vielmehr zielte
der Nationalsozialismus auf eine Verwandlung der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung.
Mit den Worten von Joachim Fest zielte Hitler auf "eine innere Erneuerung aus
Blut und Seelendunkel; nicht auf Politik, sondern auf die Wiedereinsetzung des
Instinkts: den Intentionen und Parolen nach war der Faschismus keine Klassen-,
sondern eine Kulturrevolution, er beanspruchte nicht, der Befreiung, sondern der
Erlösung der Menschheit zu dienen."40
Nachfolgend ist daher die Transformation der bestehenden Ordnung Gegenstand der
Untersuchung der Kulturelemente des Nationalsozialismus.
Ausprägung der NS-Kultur - Kulturelemente
des Nationalsozialismus
Auf der Ebene der symbolischen Charakteristika fallen zunächst vor allem Fahnen,
Symbole (Hakenkreuz, Runen, Totenköpfe)41
und NS-Sprache sowie paramilitärische Zeremonielle und eine allgemeine Uniformierung
ins Auge. Die nach der Machtübertragung mit erheblichem propagandistischem Aufwand
betriebene Konstruktion einer neuen nationalen Identität und einer Volksgemeinschaft
wird in Film- und Foto-Dokumentationen besonders deutlich sichtbar. Neben der
Militarisierung des Alltags durch Uniformen, Hitlergruß und massenhafte Aufmärsche
wurde der Einzelne durch von Heil- und Kampfrufen begleitete NS-Feiern von Januar
bis November mit einer zunächst symbolischen Schein-Wirklichkeit umgeben, die
bald zu einer neuen Realität wurde. Dazu trugen auch die Neuprägungen, Umdeutungen
und die hohe Gebrauchsfrequenz von Wörtern ihren Teil bei.42
Die Uniformierung der Gesellschaft war Bestandteil einer Formierung der Volksgemeinschaft,
in der gesellschaftliche Gegensätze und (Klassen)Unterschiede verwischt werden
sollten, zugleich aber das Verhältnis der Menschen zu einander formalisiert und
hierarchisiert wurde. Ständig wurde stramm gestanden, gegrüßt, gemeldet, gehorcht,
im Gleichschritt marschiert. Dies wirkte bis in die Psyche der Menschen hinein,
wie die Sprache, die Gefühle lenkt und die Seele steuert.43
Die symbolischen Charakteristika oder Artefakte einer System- oder Organisationskultur
sind eine Art selbst geschaffene, sichtbare Umgebung der Organisation.44
Die Symbole haben die Aufgabe den "schwer faßbaren, wenig bewußten Komplex von
Annahmen, Interpretationsmustern und Wertvorstellungen lebendig zu erhalten, weiter
auszubauen und ... an neue Mitglieder weiterzugeben."45
Bei den Nationalsozialisten bedeutet dies die Indoktrination der Gesellschaft
mit der in "Mein Kampf" skizzierten, in der "Kampfzeit" gelebten und in der
Regimephase ausdifferenzierten Weltanschauung. Die symbolischen Charakteristika
verweisen zugleich anschaulich auf die Vielzahl der organisationsspezifischen
Herrschaftsmittel zur Integration, Ab-, Ausgrenzung und Vereinheitlichung der
Mitglieder und Außenstehenden, die nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens abdeckten.
Die Krisenstimmung der Zeit erfasste und nutzte der Nationalsozialismus in unvergleichlichem
Maße. Seine Symbole boten Orientierung, Halt und Hoffnung. Die NS-Revolution vermittelte
den Eindruck, auf Ordnung ausgerichtet zu sein; zugleich zeigte die allgemeine
Uniformierung und Allgegenwart des Hakenkreuzes das totalitäre Gesicht des Regimes.
Auch wenn die kurze Dauer der Herrschaft und die polykratische Struktur des Regimes
die anvisierte nachhaltige Umwälzung der Kultur nicht vollständig erreichte, wurde
die Symbolpropaganda doch so weit verankert, dass sie bis heute nachwirkt.
Auf der partiell sichtbaren Ebene der Normen und Standards steht das Führerprinzip
im Mittelpunkt der Normenbildung.46
"Führer befiehl - wir folgen" lautet dementsprechend die Parole, die schließlich
den Prozess einer allgemeinen Hierarchisierung der Gesellschaft beschreibt. Sie
reichte von den zu Betriebsführern aufgestiegenen Unternehmer bis zum Anspruch
des Regimes, die Mitglieder der Volksgemeinschaft in die Privatsphäre hinein zu
ordnen und zu kontrollieren. Gewissermaßen im Windschatten dieser Norm hielten
Standards wie "Befehl und Gehorsam" - bereits in der Kampfzeit der NSDAP ergingen
Verordnungen und Verlautbarungen in Befehlsform - "der Sache dienen und seine
Pflicht tun" und "das Recht des Stärkeren ersetzt die Stärke des Rechts" Einzug.
Die Maxime "Verlierer und Andersdenkende werden isoliert" und ihr Besitz oder
ihre Zuständigkeiten als Beute aufgeteilt bekamen auch Prominente Persönlichkeiten
wie Röhm, Strasser, Schacht, Blomberg und Fritsch zu spüren. Rassekult und Judenhass
wurden mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten zur Staatsdoktrin.
Der nationalsozialistische "Blutaberglaube" wurde effektiv in bürokratische
Alltagsroutinen umgesetzt.47 Kadavergehorsam
bis hin zur massenhaften Vernichtung als "unlebenswert" deklarierter Menschen
ist eine, wohl die extremste Folge der durch die Nationalsozialisten in die Gesellschaft
getragenen neuen Normen.
Normen und Standards erklären warum die Mitglieder einer Organisation sich so
verhalten wie sie sich verhalten, denn sie sind Ausdrucksformen, der dem Verhalten
zugrunde liegende Weltanschauung. Und diese Weltanschauung hat einen wesentlichen
Einflus auf das Denken, Fühlen und Wahrnehmen der Menschen. Normen und Standards
sind als institutionalisierte Werte eine Konkretisierung der Weltanschauung in
Form von alltäglichen Regelungen, die ihre Umsetzung befördern.48
Die Normen und Standards lassen sich auf einen doppelten Fluchtpunkt hin bündeln:
Einerseits den Krieg, der frühzeitig in Richtlinien und Grundsätzen wie "alles
für die Wehrmacht"49 oder der
"Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes" seinen Niederschlag fand und andererseits
im sozialdarwinistischen "Leistungs"wettkampf, den Hitler bewusst und unbewusst
in Form von Kompetenz- und Ressortüberschneidungen vorantrieb. Gegenüber dem SS-Führer
Walter Schellenberg äußerte sich Hitler einmal wie folgt: "Man muß die Menschen
sich reiben lassen, durch Reibung entsteht Wärme, und Wärme ist Energie."50
Im Regmiealltag beförderten die übergeordneten Leitlinien vom "guten, natürlichen
Krieg" und vom naturgegebenen sozialdarwinistischen Auslesekampf den schrankenlosen
Rassismus mit der Züchtung, Entrechtung und Vernichtung von Menschen.
Schließlich lautete Rassismus, Lebensraumgedanke und Sozialdarwinismus die neue
Trinität auf der Ebene der verborgenen grundlegenden Annahmen. Krieg wurde zum
Ziel und Mittel eines totalitären Gesellschaftsentwurfs, dessen handlungsleitende
Elemente von Hitler charismatisch proklamiert und durch seine Person integriert
wurden. Die Errichtung eines Rassestaates51
folgte Hitlers global gedachter, völkerbiologistischer Endlösung der Menschheit.
Die "Erhaltung [der menschlichen Kultur, MvP] aber ist eingebunden in das eherne
Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des Besten und Stärkeren.
Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des
ewigen Ringens, verdient das Leben nicht." lautete eine zentrale Aussage Hitlers
in "Mein Kampf".52
Ziel war eine völkerbiologistische Endlösung der Menschheit. Durch Rassezucht
sollte eine "rassische Gesundung des deutschen Volkes" erreicht und anschließend
"die alte Welt durch die rassische Züchtung des neuen Menschen für alle Zeit
von ihren Übeln erlös[t]"53 werden.
Die Nationalsozialisten arbeiteten also auf die (in letzter Konsequenz global
angelegte) Umwandlung einer Klassengesellschaft in eine Rassengesellschaft hin.
Opfer dieser Ideologie wurden Juden, Sinti und Roma, Kriminelle, Homosexuelle,
Behinderte und viele andere zu "minderwertigem Leben" deklassierte Menschen.54
Grundlage einer derartigen Weltsicht war die bereits vor der Jahrhundertwende
kursierende rassistische und völkische Vulgärliteratur, die von Hitler in den
20er Jahren zu einem geschlossenen Ideengebäude geformt wurde.55
Das Lebensraumkonzept, also der Krieg des deutschen Volkes gegen das "Ostvolk",
diente der imperialistischen Ausbeutung in Form von Siedlung, Rohstoffversorgung,
Ernährungssicherung und der Schaffung und Festigung einer kontinentalen Vorherrschaft
- in letzter Konsequenz der Vorbereitung eines Krieges der Kontinente um die
Weltherrschaft.56 Zugleich richtete
sich der Ostkrieg gegen einen von Hitler identifizierten Hort der "jüdisch-bolschewistischen
Weltverschwörung". Der Krieg war Mittel und Ziel einer rassischen Rekonstruktion
des Kontinents und der Errichtung einer Großraumwirtschaft.57
Es ist wichtig zu betonen, dass Krieg für Hitler nicht die Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln bedeutete, sondern ein immanentes Mittel jedweder Politik
darstellte, denn nach Hitlers Verständnis strebte "[j]edes Wesen .. nach Expansion
und jedes Volk .. nach der Weltherrschaft".58
Politik war für ihn daher "die Kunst der Durchführung des Lebenskampfes eines
Volkes um sein irdisches Dasein."59
Damit ersetzte er faktisch die Kultur der Politik durch die Kultur des Krieges.60
Hitlers "soziologisches" Verständnis von der Funktionsweise der Welt war gekennzeichnet
durch einen vulgären und brutalen Sozialdarwinismus.61
Er bildete in Hitlers Denken das Bindeglied zwischen Rassismus und Lebensraum.
Der Vollzug einer solchen Weltsicht, die den Rassenkampf als geschichtsmächtige
Kraft verstand, bedurfte weniger eines konkreten Fahrplans, er ließ sich vielmehr
durch das beharrliche Schaffen und Ausnutzen günstiger Gelegenheiten organisieren.
Die Mittel dazu waren ebenso zahlreich wie wirkungsvoll: Propaganda und predigthafte
Wiederholung der Weltanschauung, Rasse(un)recht62
und Vernichtung als "unlebenswert" deklarierten Lebens, Überlagerung und Zersetzung
des überkommenen bürokratischen Staates mit einem Maßnahmenstaat, Kriegsrüstung,
Krieg.
Wirkung der NS-Kultur - Bedeutung
für das Verständnis des NS-Systems
These dieses Aufsatzes ist erstens, dass die Nationalsozialisten über eine spezifische
Kultur verfügten, die prägenden Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, ja zu ihrer
Transformation führte. Und zweitens besitzt die Analyse dieser Kultur eine besondere
Erklärungskraft, die über die Frage nach dem Potential der Pläne, Planungen und
Programme der Nationalsozialisten hinausreicht. Aufmerksame zeitgenössische Beobachter
wie Wilhelm Röpke und Sebastian Haffner haben das sehr deutlich wahrgenommen und
geäußert. Die Veränderung der Kultur, des allgemeinen Lebens durch die "braune
Flut", war nicht zu übersehen.63
Bei den zuvor skizzierten informalen Beschränkungen wie ungeschriebene, aber sozial
kontrollierte Verhaltensnormen und -standards sowie formalen Beschränkungen durch
Verfassung, Gesetze und verbindliche Regeln handelt es sich um Institutionen.
Institutionen sind von Menschen erdachte und geprägte Verhaltensbeschränkungen,
die der Ordnung des Zusammenlebens dienen.64
Innerhalb einer Organisation nehmen sie Einfluss auf Entscheidungsprozesse und
Problemformulierungen, wirken sie auf kulturelle Weise prägend auf Führungselite
und Mitglieder.65 Der Schlüssel
des Erfolges für die nationalsozialistische Umwandlung der Gesellschaft in eine
Rassegesellschaft lag in dem Ziel, der "Gleichschaltung aller Köpfe"66.
Zugleich bereitete sie den Boden für Willkür, Unberechenbarkeit und unbeschränkte
Herrschaft. Da Lernprozesse soziale Wurzeln haben besitzen Sprache und Bewegung
als ihre Grundlage eine besondere Bedeutung. Den Nationalsozialisten gelang es
innerhalb von kurzer Zeit, beide - Sprache und Bewegung - zu kontrollieren.
Hier liegt der mächtige Kern der NS-Kultur verborgen.
Das Vordringen wesentlicher Teile der nationalsozialistischen Organisationskultur
vor und nach der Machtübertragung in weite Teile der Gesellschaft67
war aus verschiedenen Gründen möglich: Empfänglich waren Teile der deutschen Gesellschaft
nicht zu letzt auf Grund eines verbreiteten Bedürfnisses nach Ordnung, Sicherheit,
Sinn und Perspektive, das in der Auflösungsphase der Weimarer Republik bedingt
durch eine Kumulation ökonomischer Schocks, außenpolitischer Probleme und politisch-kultureller
Konfliktfelder an Dringlichkeit zunahm.68
Das Legitimitätsfundament und damit der "Legitimitätsglaube"69
an die erste deutsche Demokratie konnte in der kurzen Zeit der Weimarer Republik
nicht verankert werden. Zu ihrem Ende hin war die politische Kultur durch Intoleranz,
politische Gewalt und Staatsglaube geprägt, der den Boden für die nationalsozialistische
Umbau der Gesellschaft bereitete.70
Unlängst hat Michael Wildt71 auf
die Radikalität und Dynamik der Jugendgeneration des Ersten Weltkriegs hingewiesen,
die als gebildete akademische Mittelschicht in die Elite der Juristen, Geisteswissenschaftler
und Ärzte aufstieg und als führende SD-Angehörige und Polizisten für die grausame
Stoßkraft des Reichssicherheitshauptamt sorgten. Vor der Machtübertragung waren
viele von ihnen studentische Aktivisten, Jugendbündler und antiliberale "junge
Radikale", die auf politische Aktion drängten. Die Verbindung einer entgrenzten
Struktur einer NS-Organisation eigenen Typs (RSHA) mit der konzeptionellen Radikalität
der jungen Generation, die die NS-Kultur begierig aufsog, und ihren erheblichen
Aufstiegsmöglichkeiten trug wesentlich zur Radikalisierung des Regimealltags bei.72
Ferner gilt es langfristige institutionelle Pfade einer autoritären Verformung,
nationalistischer, rassistischer und sozialistischer Strömungen zu berücksichtigen.
Das bedeutet, dass die Nationalsozialisten einseitig und eklektizistisch einzelne
Elemente und Strömungen der deutschen Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
aufgriffen und veränderten, primitiv und abartig überhöhten und als Staatsideologie
propagierten. Dazu gehörten Rassismus, übersteigerter Nationalismus, völkischer
Imperialismus, Sozialdarwinismus, Autoritarismus und Antiliberalismus.73
Schließlich bedeutet diese Auffassung auch, dass sich die Werte der Nationalsozialisten
zumindest im Kern als mit den Werten wichtiger Teile der Gesellschaft kompatibel
erwiesen.
Der Kulturwandel selbst vollzog sich wie eine Art Schneeballeffekt. Das lag daran,
dass die Veränderung schon einer, der eng miteinander verbundenen Normen, Werte
und grundlegenden Annahmen, sich auf verwandte Institutionen auswirkte.74
Schließlich spielte auch eine Rolle, dass Abweichungen von der NS-Norm sanktioniert
wurden.75 Das totalitäre Regime
zielte von Beginn an auf eine Herrschaft auch über das Alltagsleben der Bevölkerung
und damit auf die Kontrolle der Handlungen, Gedanken und Meinungen der Volksgemeinschaftsgenossen.
In der Zeit nach 1938 kam es diesem totalitären Herrschaftsanspruch immer näher.
Zusammen genommen richteten die Nationalsozialisten ihre Anstrengungen auf eine
grundlegende Umwertung der Kultur, der ökonomischen und gesellschaftlichen Wertmuster.76
In wirtschaftspolitischer Hinsicht zog die Errichtung eines Rassestaates die fundamentale
Veränderung des organisierten Kapitalismus der Weimarer Republik und des Kaiserreichs
in eine nicht-ökonomische Beute- und Befehlswirtschaft nach sich. Die Nationalsozialisten
betrieben eine Transformation77
der bestehenden Ordnung, den Wandel einer "überkommenen bürgerlichen Gesellschaft
zu einer moralisch freigesetzten Leistungsgesellschaft"78.
Getragen wurde dieses Bestreben von einem allgemeinen Glaubensverlust an die Vorherrschaft
von ökonomischen Werten über die Gesellschaft, der sich mit der Urkatastrophe
des 20. Jahrhunderts rasant ausbreitete.79
Etabliert wurde eine "Kultur des Krieges". Sie wurde zur Triebfeder der Herrschaftsorganisation.
Ihr diente die auf den Krieg ausgerichtete Volksgemeinschaft in Gestalt eines
autoritär-kollektivistischen Massenstaates. Mit dem Verlust des "Individuellen"
und der Formierung der Gesellschaft wurde idealtypisch betrachtet der "homo oeconomicus"
gleichsam durch den "homo militaris" abgelöst.80
Zur Begründung und zum Zusammenhalt der Gesellschaft fehlten dem Nationalsozialismus
ökonomische Komponenten. An ihre Stelle traten die genannten Kategorien Rassismus,
Lebensraumgedanke und Sozialdarwinismus und die exemplarisch aufgeführten, mit
den grundlegenden Annahmen interdependent verwobenen Normen und Standards. Sie
kennzeichnen den Charakter des Terrorregimes, das nicht auf gesamtwirtschaftliche
Wohlfahrt aus war, sondern auf einen Rassenkampf, für den es Rüstungsgüter bereitzustellen
und ein Volk zu formieren galt. In dieser Hinsicht liegt der Schluss nahe, dass
es sich bei dieser Organisationskultur, der auch das Wirtschaftssystem mit seinen
Funktionsmechanismen unterworfen wurden, um eine "nicht-ökonomische" Kultur
handelt.81
Der Kulturwandel war umfassend und trug quasi-religiöse Züge. Er zielte auf die
Verwandlung des Menschen und damit auf eine fundamentale Transformation der bestehenden
Gesellschaftsordnung. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die institutionellen
Verwerfungen bis in die heutige Tagespolitik spürbar sind. Schließlich steht die
Kultur des Krieges in krassem Gegensatz zur liberalen Wettbewerbsgesellschaft:
"Die Wettbewerbswirtschaft wiederum ist ein kulturelles Wunderwerk, das auf ein
hohes Maß von pflegehafter Verwaltungskultur, einsichtiger Grundsatzfestigkeit,
Achtung vor der individuellen Freiheit, Liebe zur individuellen Freiheit, Willen,
diese Freiheit zu behaupten, und von Rechtsbewusstsein angewiesen ist, das also
nur bei hochangespannter Daueranstrengung eines politisch geschulten, freiheitsliebenden
Volkes vor Verfall geschützt werden kann."82
Mit dem Konzept der Organisationskultur haben wir die Hoffnung verbunden, einen
Beitrag zur umfassenden Deutung der NS-Systems in der Verbindung vom Herrschaftsideologie
und ihrer Umsetzung und der Integration rivalisierender Konzepte vollziehen zu
können. Als Grundlage bietet der Kulturansatz die Möglichkeit so verschiedene
Aspekte wie Politik, Religion, Rasse, Charisma, Mythos zu verbinden, und damit
weiter in Richtung einer angemessenen Erklärung des Nationalsozialismus hinzuarbeiten.
Die Analyse der Organisationskultur bietet den Vorteil, die strukturellen Komponenten,
die langfristig wirkenden politischen, ökonomischen und geistigen Voraussetzungen
nationalsozialistischen Handelns freizulegen. In dieser Sicht erscheint die nationalsozialistische
Kultur als ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung und Funktionsweise, der
Stärken und Schwächen, der Integrationsfähigkeit und der Dynamik des NS-Herrschaftssystems.
Offen geblieben - und damit seien weiterführende Untersuchungen angeregt sind
konkrete Angaben zur Verankerungsbreite und -tiefe der "Kultur des Krieges"
in unterschiedlichen Regionen, Milieus und Herrschaftsbereichen. In diesem Zusammenhang
gilt es die Subkulturen in regionaler Hinsicht und in den unterschiedlichen Organisationen
bzw. Herrschaftsbereichen im Spannungsfeld von Eigenständigkeit und Bindung genauer
zu untersuchen. Sie sind durch eigenständige, z. T. abweichende Merkmale, jedoch
stets unter dem gemeinsamen kulturellen Dach der Organisationskultur zu begreifen.
Die Ausprägung von Subkulturen kann Aufschlüsse in der Debatte um die polykratischen
Herrschaftsstrukturen sowie die Anziehungskraft und Integrationsfähigkeit des
NS-Regimes liefern. Darüber hinaus erscheint es vielversprechend, den Entstehungsprozess
der Organisationskultur der Nationalsozialisten detailliert nachzuzeichnen. Auf
diese Weise bietet das vorgestellte Konzept ausreichend Ansatzpunkte für eine
Dynamisierung, für ein Nachspüren der Entwicklung der Organisationskultur in verschiedenen
evolutiven und revolutionären Phasen, die die Verfestigung des Kulturkerns beförderten.
Ein Ergebnis kann schon vor weiteren Untersuchungen festgehalten werden: Die 0eingangs
zitierte Auffassung von Friedrich Pollock, das es sich beim Nationalsozialismus
um eine neue Ordnung handelt, bestätigt sich auch aus einer veränderten Perspektive.
1
Friedrich Pollock: Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung?, in: Helmut
Dubiel / Alfons Söllner (Hg.): Horkheimer, Pollock, Gurland, Marcuse. Wirtschaft,
Recht und Staat im Nationalsozialismus: Analysen des Instituts für Sozialforschung
1939-1942, Frankfurt a. M. 1981, 111-128, ursprünglich erschienen unter
dem Titel: Is National Socialism a New Order?. In: Studies in Philosophy
an Social Science 9 (1941), 440-455.
6Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe,
Wiesbaden 1946 und Gerhard Ritter: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen
über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948.
7Siehe dazu statt anderer den Doyen der
Bielefelder Schule Hans-Ulrich Wehler: Geschichtswissenschaft heute, in:
Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, Frankfurt
a. M. 1979, Bd. 2, 709-753.
8Lutz Musner/ Gotthart Wunberg/ Christina
Lutter (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Wien
2001. Siehe das von Werner Abelshauser herausgegebene Heft 4 der 1975 von
den Gesellschaftshistorikern gegründeten Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft
27 (2001): Neue Institutionenökonomik als Historische Sozialwissenschaft.
9Gleichwohl ist die Bedeutung historischer
Prozesse für die Entwicklung von Märkten und Marktwirtschaften bereits frühzeitig
u. a. durch Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische
Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Erstausgabe unter
dem Titel The Great Transformation 1944, Frankfurt a. M. 1978 herausgearbeitet
worden.
10Zu den bekanntesten Vertretern, ja als
Väter gelten R.H. Coase und Oliver Williamson. Für die Wirtschaftsgeschichte
ging ein wichtiger Impuls von den Arbeiten von Douglas C. North aus und
seiner Theorie des institutionellen Wandels Douglas C. North: Structure
and Change in Economic History, New York 1981.
11Auf die Bedeutung für den Unternehmenserfolg
haben frühzeitig hingewiesen T. E. Deal/ A. A. Kennedy: Corporate Cultures:
The rites and rituals of corporate life, Reading Mass. 1982 und mit ihrem
populären Bestseller T. J. Peters/ R. W. Waterman jr.: In Search of Excellence
- Lessons from America's Best-Run companies., New York u. a. 1982.
12So war der Markt als historische Institution
Gegenstand einer epochenübergreifenden Sektion des 44. Historikertags 2002.
Siehe statt anderer auch den 19. Band der Reihe: Institutionelle und Evolutorische
Ökonomik von Oliver Volckart: Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung in
Politik und Wirtschaft. Deutschland in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg
2002. Statt anderer siehe zudem die Tagungen "Wirtschaftsgeschichte
als Kulturgeschichte Marktkulturen und Wirtschaftsstile, Wissenssysteme
und Visionen" veranstaltet von Hartmut Berghoff und Jakob Vogel vom
24.02.2003-26.02.2003 in Göttingen und "Nationalsozialismus in der
Region" Konferenz des Instituts für Schleswig-Holsteinische Zeit- und
Regionalgeschichte am 8./9. November 2002 in Schleswig aus Anlass seines
10-jährigen Bestehens (Tagungsbericht von Birte Claasen, Nils Köhler und
Sebastian Lehmann unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=127&pn=
tagungsberichte).
13Die Zeitschrift "Beiträge zur Geschichte
des Nationalsozialismus" etwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, "reiner
Ideologiebezogenheit ebenso ... wie reinen Strukturmodellen" entgegenzuwirken.
14Hermann Glaser: Spießer Ideologie. Von
der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg
1964.
15
David Schoenenbaum: Die braune
Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reichs, Köln 1968.
16
Franz Janka: Die braune Gesellschaft.
Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997.
17
Siehe statt anderer Sabine Behrenbeck:
Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole
1923 bis 1945, Vierow 1996; Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hg.):
Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus,
Bonn 1995 und die unter dem Begriff "Rausch" analysierten emotionalen
und psychologischen Voraussetzungen auf der Tagung "Rausch und Diktatur"
an der Humboldt-Universität Berlin vom 06.12.2002-07.12.2002 (Tagungsbericht
von Árpád von Klimó und Malte Rolf unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=159&pn=tagungsberichte
sowie die Tagung "Nationalsozialismus in der Region" (wie Anm.
12).
18
Siehe Michael Ley / Julius H.
Schoeps (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Mainz 1997,
Hans Maier / Michael Schäfer (Hg.): "Totalitarismus" und "Politische
Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. 1 und 2, Bd. 3: Deutungsgeschichte
und Theorie, Paderborn u.a. 1996f. und 2002 und partiell verfolgt durch
Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung,
Frankfurt a. M. 2000.
19
Die Begriffe stammen von Tim Mason:
Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation
of National Socialism, in: Gerhard Hirschfeld / Lothar Kettenacker (Hg.):
Der "Führerstaat": Mythos und Realität. Studien zur Struktur und
Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, 23-40. Siehe zur Kontroverse
auch die weiteren Beiträge dieses Tagungsbandes sowie Klaus Hildebrand:
Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945,
Stuttgart 1995, 182f.
20
Siehe Frank-Lothar Kroll: Utopie
als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich,
Paderborn 1998.
21
Siehe Wolfgang Wippermann: "Triumph
des Willens" oder "kapitalistische Manipulation"?. Das Ideologieproblem
im Faschismus, in: Karl Dietrich Bracher/ Manfred Funke/ Hans-Adolf Jacobsen
(Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, Düsseldorf
1983, 735-759 , hier 759 und zuvor Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner
Epoche. Die Action francaise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus,
2. Aufl. München 1965, 445.
22
Max Weber: Die protestantische
Ethik und der "Geist" des Kapitalismus, 3. Aufl. (Original 1904/05
und 1920) Bodenheim 2000 und Alfred Müller-Armack: Genealogie der Wirtschaftsstile.
Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1944.
23
Siehe dazu auch Helmut Leipold:
Die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen: Bürgergesellschaft versus
Sozialstaatsgesellschaft, in: B. Wentzel/ D. Wentzel (Hg.): Wirtschaftlicher
Systemvergleich Deutschland/ USA, Stuttgart 2000, 1-52.
24
Siehe Michael von Prollius: Das
Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente
Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003, 19.
25
Barbara Zehnpfennig: Hitlers "Mein
Kampf". Eine Interpretation, München 2000, siehe auch Frank-Lothar
Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im
Dritten Reich, Paderborn 1998, 312.
26
Jacob Burckhardt: Griechische
Kulturgeschichte, 4 Bde., Basel, München 1898-1902.
27
Grundlegende Einführungen bieten
David J. Krieger: Einführung in die allgemeine Systemtheorie, München 1996
und Helmut Willke: Systemtheorie I: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme
sozialer Systeme, Stuttgart 1996.
28
Siehe dazu Michael Burleigh /
Wolfgang Wippermann: The Racial State: Germany 1933-1945, Cambridge 1991.
29
Die Überlegungen basieren auf
einer Kulturanalyse des Verfassers, die er im Rahmen seiner Arbeit über
das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten durchgeführt hat. Siehe von
Prollius: Wirtschaftssystem (wie Anm. 24), 79-132.
30
Siehe anschaulich Sonja Sackmann:
Organisationskultur: Die unsichtbare Größe, in: Gruppendynamik. Zeitschrift
für angewandte Sozialwissenschaft 14 (1983), 395-406, E. Schein: Coming
to a New Awareness of Organizational Culture, in: Sloan Management Review
25 (1984), H. 2, 3-16, Georg Schreyögg: Organisation, Wiesbaden 1998, 439-475.
31
Zum Unterschied am Beispiel von
Unternehmen siehe Georg Schreyögg: Die internationale Unternehmung im Spannungsfeld
von Landeskultur und Unternehmenskultur, in: Rainer Marr (Hg.): Euro-strategisches
Personalmanagement, 2 Bde., Bd. 1. München 1991, 17-42. Als historisches
Beispiel zu einer anderen Epoche siehe Anne Nieberding: Unternehmenskultur
im Kaiserreich. J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer &
Co, München 2002.
32
Vgl. E. Schein: Coming to a New
Awareness of Organizational Culture, in: Sloan Management Review 25 (1984),
H. 2, 3-16, 3.
33
33 Zur Grenzziehung siehe Niklas
Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt
a. M. 1984, bes. 35, 166, 242f.; sowie die Überlegungen in Georg Schreyögg/
Jürgen Sydow (Hg.): Gestaltung von Organisationsgrenzen, Managementforschung
7, Berlin 1997.
36
Siehe dazu ausführlich von Prollius:
Wirtschaftssystem (wie Anm. 24), 79-132, auch als Grundlage der nachfolgenden
Ausführungen.
37
Uwe Puschner: Die völkische Bewegung
im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001.
38
Karlheinz Weißmann: Der Nationale
Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890-1933, München 1998.
39
Zu den historischen Wurzeln des
Sozialdarwinismus und seiner Strömungen siehe H. G. Zmarzlik: Der Sozialdarwinismus
in Deutschland als geschichtliches Problem, in: VfZ 11 (1963), 246-273.
Einen knappen Überblick zur NS-Ideologie und ihren Vorläufern bietet Wolfgang
Altgeld: Die Ideologie des Nationalsozialismus und ihre Vorläufer, in: Karl
Dietrich/ Leo Valiani (Hg.): Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin
1991, 107-136.
40
Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie,
Frankfurt a. M. 1999, 162.
41
Zur Hakenkreuzfahne, zu Runen
und Heraldik siehe Karlheinz Weißmann: Schwarze Fahne, Runenzeichen. Die
Entwicklung der politischen Symbolik der deutschen Rechten zwischen 1890
und 1945, Düsseldorf 1991.
42
Zur Veränderung der Sprache siehe
zeitgenössisch Viktor von Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 3.
Aufl., Leipzig 1975, daneben Gerhard Bauer: Sprache und Sprachlosigkeit
im "Dritten Reich", Köln 1988 sowie systematisch Cornelia Schmitz-Berning:
Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin, New York 1998, anschaulich etwa
das Stichwort "schlagartig" 558f.
43
Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis
der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, 23 sprach in diesem Zusammenhang von
einer "Vermassung" im Sinne einer "Zerbröckelung und Verklumpung"
der Gesellschaft.
46
Normen sind allgemeinverbindliche,
anerkannte Regeln, die für einen erwarteten Zustand bestimmte Handlungen
oder Unterlassungen als "normal" oder normgemäß ansehen. Sie koordinieren
Handlungen. Vgl. Peter Weise: Verhaltenskoordination durch soziale Normen
und Kräfte, in: Birger P. Priddat/ Gerhard Wegner (Hg.): Zwischen Evolution
und Institution. Neue Ansätze in der ökonomischen Theorie, Marburg 1996,
187-209, 188.
47
Eindringlich: Cornelia Esser:
Die "Nürnberger Gesetze". Die Verwaltung des Rassenwahns, Paderborn
2002.
48
Vgl. Schein: Organizational Culture
(wie Anm. 30), 3; Schreyögg: Organisation (wie Anm. 30), 443-447 und F.
A. von Hayek: The Sensory Order - An inquiry into the foundations of theoretical
psychology, London 1976.
49
Hitler in der Ministerbesprechung
am 8.2.33, Akten der Reichskanzlei, Reg. Hitler I, 1, 50f. Vgl. auch Hitlers
geheime Rede am 3.2.1933 vor der Generalität der Reichswehr - dazu die Aufzeichnungen
des General Liebmann in VfZ 2 (1954), 434-436.
50
Walter Schellenberg: Memoiren,
Köln 1956, zitiert nach Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt
a. M. 1999, 597.
51
Vgl. Burleigh / Wippermann: Racial
State (wie Anm. 28).
52
Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei
Bände in einem Band, 29. Aufl. München 1933, 316f.
53
Hildebrand: Deutsche Außenpolitik
(wie Anm. 19), 568.
54
Siehe umfassend Burleigh / Wippermann:
The Racial State (wie Anm. 28) und Burleigh: Nationalsozialismus (wie Anm.
18).
55
Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die
deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus,
Köln 1993, 105, Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus,
engl. Orginal 1985, Stuttgart 1997, 167-176 und L. S. Dawidowicz: Der Krieg
gegen die Juden 1933-1945, München 1979, 20f. Hitlers Weltanschauung glich
spätestens seit Mitte der 20er Jahre einem geschlossenen Konzept; siehe
Ian Kershaw: Ideologe und Propagandist. Hitler im Lichte seiner Reden, Schriften
und Anordnungen 1925-1928, in: VfZ 40, 1 (1992), 263-271, 269.
56
Siehe Jochen Thies: Architekt
der Weltherrschaft. Die "Endziele" Hitlers, Düsseldorf 1976, besonders
163-174, und Andreas Hillgruber: Hitlers Strategie, Politik und Kriegführung
1940-1941, Frankfurt a. M. 1965.
57
Vgl. Adolf Hitler: Hitlers zweites
Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928. Eingeleitet und kommentiert von Gerhard
L. Weinberg, Stuttgart 1961 1928, 48, 163, passim und die Überlegungen von
Martin Broszat: Betrachtungen zu "Hitlers zweitem Buch", in: VfZ
9 (1961), 417-429 sowie Rolf-Dieter Müller: Die Konsequenzen der "Volksgemeinschaft":
Ernährung, Ausbeutung und Vernichtung, in: W. Michalka (Hg.): Der Zweite
Weltkrieg. Analysen Grundzüge Forschungsbilanz, München, Zürich 1989, 240-248,
der die Verbindung von Lebensraumimperialismus und Rassismus aufzeigt.
58
H. Preiß (Hg.): Adolf Hitler in
Franken. Reden aus der Kampfzeit, o.O. 1939, 171.
60
Martin Broszat: Grundzüge der
gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: ders. / Hans Möller
(Hg.): Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte. Vorträge aus
dem Institut für Zeitgeschichte, München 1983, 38-63, 40 wies in eine ähnliche
Richtung, wenn er feststellte, dass der Nationalsozialismus durch ein Arrangement
"mit den einflußreichsten Kräften der Gesellschaft" und gestützt
auf eine "ständig in Gang gehaltene, kriegsähnliche politische Mobilisation
der deutschen Gesellschaft ... eine Untergrabung fast aller alten gesellschaftlichen
Eliten, Instanzen, Normen und auch Interessenorganisationen" vollzog.
61
Zu den historischen Wurzeln des
Sozialdarwinismus und seiner Strömungen, zu deren ersten Belegen der Aufsatz
von S. R. Steinmetz in der Zeitschrift für Sozialgeschichte 9 (1906), 423ff.
zählt, siehe Zmarzlik: Sozialdarwinismus (wie Anm. 39). Altgeld: Ideologie
des Nationalsozialismus (wie Anm. 39), 111f. skizziert sechs Elemente in
Hitlers Weltanschauung: Selbsterhaltungstrieb (aller Lebewesen als Kampf
um Ernährung und Sicherung der Nachkommen) - Arterhaltungstrieb (Bildung
von Gemeinschaften) - in Verbindung mit knappen Ressourcen: Kampf um (Nahrungs-
und Wachstums)Raum - Existenz vernichtender Sieg der stärkeren Art führt
zu Höherentwicklung - Reinerhaltungsgebot der Art - menschliche Gemeinschaften
sind unveränderliche Rassen.
62
Etwa 2000 Gesetze, Verordnungen
und Bestimmungen waren das Ergebnis der offiziellen Ausprägung der NS-Kultur
auf dem "Rassesektor". Siehe Cornelia Esser: Die "Nürnberger
Gesetze". Die Verwaltung des Rassenwahns, Paderborn 2002.
63
Siehe Sebastian Haffner: Geschichte
eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart, München 2000, 79,
81, 88 - die "Faszination des Widerlichen", 97.
64
Vgl. Douglas C. North: Institutionen,
institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, 4f.; Leipold:
Wirtschaftsordnungen (wie Anm. 23) unterscheidet Selbstbindende, bindungsbedürftige
und rechtlich erzwingbare Institutionen als tragendes Gerüst einer Kultur.
65
Zu diesem Komplex siehe Mark Ebers:
Organisationskultur und Führung, in: Alfred Kieser / et al. (Hg.): Handwörterbuch
der Führung, Stuttgart 1995, 1664-1682, bes. 1664 und Knut Bleicher: Zum
Verhältnis von Kultur und Strategien der Unternehmung, in: Eberhard Dülfer
(Hg.): Organisationskultur. Phänomen - Philosophie - Technologie, Stuttgart
1991, 111-128, 116.
66
Joachim Rohlfels: Der Nationalsozialismus
- ein Hitlerismus, in: GWU 48 (1997), 125-150, 194. Zur Erziehung, auch
der "Errichtung eines neuen Menschen", durch die Nationalsozialisten
liegt inzwischen eine ganze Reihe von Arbeiten vor.
67
Während das "Bayern-Projekt"
(Martin Broszat u. a. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München u. a.
1977ff.) das Bild einer weit gehend resistenten Gesellschaft zeichnete,
sind die Forschungsergebnisse zum Saarland ambivalenter: Klaus-Michael Mallmann
/ Gerhard Paul: Das zersplitterte Nein. Saarländer gegen Hitler, Bonn 1989.
Siehe zudem Carl-Wilhelm Reibel; Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen
1932-1945, Paderborn 2002.
68
Zugleich verlagerten sich politische
Entscheidungen immer stärker in informelle Personenzirkel, deren Werthaltungen
parallel an Bedeutung gewannen. Reichswehr, Adel, Großindustrie, DNVP und
NSDAP sowie Hindenburg und seine Ratgeber waren nun allesamt keine überzeugten
Demokraten.
69
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaf,
Tübingen 5. Auflage 1972.
70
Thomas Mergel: Parlamentarische
Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik
und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002 und Kurt Sontheimer: Antidemokratisches
Denken in der Weimarer Republik, München 1962.
71
Michael Wildt: Generation des
Unbedingten. Das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002
72
Schon Haffner: Geschichte eines
Deutschen (wie Anm. 63) hat eindrücklich den auch rauschhaften geistigen
Ausnahmezustand des Ersten Weltkriegs für die Jugend in der Heimat beschrieben.
73
In institutioneller Hinsicht wird
hier die Pfadabhängigkeit der NS-Kultur sichtbar, also die Tatsache, dass
historische Strukturen und Ereignisse Entscheidungen und Entwicklungen präformieren.
Zu den theoretischen Grundlagen siehe Rolf Ackermann: Pfadabhängigkeit,
Institutionen und Regelreform, Tübingen 2001.
74
74 Siehe dazu die Polykratie-lastige
Interpretation von Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus und die Auflösung
des normativen Staatsgefüges, in: Wolfgang Luthardt/ Alfons Söllner (Hg.):
Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus, Opladen 1989, 67-75.
75
Siehe zum Ausmaß der Unterstützung
des NS-Regimes aus der Bevölkerung im Hinblick auf die Denunziation von
Andersdenkenden Michael P. Hensle: Denunziantentum und Diktatur. Denunziation
als Mittel der Machtausübung und Konfliktaustragung im nationalsozialistischen
Deutschland, in: ZfG 51 (2003), 144-161 und Gisela Diewald-Kerkmann: Politische
Denunziation im NS-Regime oder Die kleine Macht der "Volksgenossen",
Bonn 1995.
76
Die Nationalsozialisten zielten
auf die Zerstörung oder Instrumentalisierung von Milieus und Deutungsmustern.
Während etwa katholische und kommunistische Auffassungen sich als besonders
widerstandsfähig erwiesen, waren sie doch auch Einfallstor für die NS-Ideologie.
Siehe etwa Detlef Schmiechen-Ackermann: Soziale Milieus, Politische Kultur
und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, in: ders.
(Hg.): Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, Politische
Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im
regionalen Vergleich, Bonn 1997, 13-29; Carl Joachim Friedrich / Zbigniew
Brzezinski: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, 610f. formulieren sechs
Kriterien, die ein Systemganzes mit einer überwölbenden Ideologie kennzeichnen.
Dazu gehören das anstreben eines idealen Endzustandes, eine Massenpartei,
ein Terrorsystem, Medienmonopol, Kampfstoffmonopol und ein zentrale Kontrolle
/ Lenkung der Wirtschaft. Der Nationalsozialismus erfüllt alle sechs Kriterien
in hinreichendem Maße.
77
Vgl. Wolfgang Merkel: Systemtransformation.
Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung,
Opladen 1999, 176-182. Ein Systemwechsel lässt sich auf vier Ebenen nachweisen:
Erstens der konstitutionellen Ebene mit den Veränderungen der Funktion von
Regierung, Parlament, Jurisdiktion. Zweitens auf der repräsentativen Ebene
mit der gewandelten Bedeutung von Parteien und Interessenverbände. - Die
nachfolgenden beiden Punkte betreffen die in diesem Aufsatz vorgenommene
Kulturanalyse: Drittens auf der Verhaltensebene mit den neuen Normen, die
dem Handeln zu Grunde liegen. Viertens auf der Bürgerebene mit einer neuen
Form der politischen Auseinandersetzung.
79
Vgl. H. N. Brailsford in seiner
Einleitung zu Peter F. Drucker: The end of economic man. A study of the
new totalitarianism, London 1939, 11.
80
Zum durch die Nationalsozialisten
herbeigeführten Ende des Homo oeconomicus siehe zeitgenössisch bereits Peter
F. Drucker: The end of economic man. A study of the new totalitarianism,
London 1939.
81
Über das politisch bestimmte Wirtschaftsziels
der Führung eines Rassenkrieges hinaus führten folgende Aspekte zu einer
"Entökonomisierung" der ökonomischen Sphäre: Infolge eines Funktionsverlustes
des Rechts wurden Verträge potentiell zu Privilegien einer politisch und
wirtschaftlich einflussreichen Minderheit. Hinzu kommt die weit gehende
Beeinträchtigung des Prinzips der Arbeitsteilung im Zuge systematischer
Kompetenzüberschneidungen, Rivalitäten und Sondervollmachten. Außerdem setzte
der Interventionismus der Nationalsozialisten Zug um Zug grundlegende marktwirtschaftliche
Prinzipien außer Kraft (Preisstopp, Konsumüberwachung, Regulierung und Kontrolle
von Produktion, Berufs- und Arbeitsplatzwechseln, Bedeutungsverlust von
Gewinnen und Verlusten angesichts von Staatsaufträgen und Subventionen).
Einher ging dies mit einem erheblichen (Bedeutungs)Verlust des ökonomischen
Denkens. Schließlich lässt sich der Verlust der individuellen Entscheidungsfreiheit
anführen, denn das freie Verfügen über Einkommen und Besitz war erheblich
eingeschränkt oder bedroht und die Herrschaft über Produktionsmittel wurde
wichtiger als die in der Literatur vielfach betonte Belassung des Privateigentums.
Im Übrigen geht mit wirtschaftlicher Unfreiheit private Unfreiheit einher.
82
Franz Böhm: Die Idee des ORDO
im Denken Walter Euckens, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft
und Gesellschaft 3 (1950), XXV.