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zeitGeschichte 1/2 2003
10.
Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager
Ein Tagungsbericht
von Christine Wolters
Von 2. bis 5. Oktober 2003 fand in Ebensee (Österreich) der 10. Workshop zur Geschichte
der Konzentrationslager statt. Dieser Workshop, der einmal jährlich veranstaltet
wird, ist ein Forum von und für noch nicht im Wissenschaftsbetrieb etablierte
junge WissenschaftlerInnen und Studierende verschiedener Disziplinen mit dem Ziel
des gemeinsamen Austausches über die Forschung zu den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Unter den TeilnehmerInnen in diesem Jahr befanden sich nicht
nur HistorikerInnen, sondern ebenso PolitologInnen, Sozial-, Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen.
Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Verein Arche - Plattform für interkulturelle
und wissenschaftliche Projekte (Wien) und der Stiftung Topographie des Terrors
(Berlin) durchgeführt.
Mit der Wahl der Gedenkstätte und des Zeitgeschichtemuseums Ebensee (Oberösterreich)
als Veranstaltungsort folgten die OrganisatorInnen, Elissa Mailänder-Koslov (Paris),
Else Rieger (Wien), Monika Neuhofer (Salzburg) und Ralph Gabriel (Berlin), der
Tradition, in der Nähe einer KZ-Gedenkstätte zu tagen. Die erstmalige Durchführung
des Workshops außerhalb Deutschlands ging aus der Idee des vergangenen Jahres
hervor, auf diese Weise mehr WissenschaftlerInnen aus dem Ausland für eine Teilnahme
zu interessieren, damit zu einer weiteren Internationalisierung der Veranstaltung
beizutragen bzw. auch den wissenschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und
Österreich anzuregen. Neben deutschen Studierenden und DoktorandInnen nahmen in
diesem Jahr österreichische sowie französische und norwegische WissenschaftlerInnen
teil.
In 12 Vorträgen und mehreren Plenumsdiskussionen behandelte die Tagung drei Themenkomplexe:
"Das KZ als Ort des Gedenkens und der Auseinandersetzung", "Das Konzentrationslager
als interdisziplinärer Forschungsgegenstand" sowie "Handlungsfelder im KZ".
Mit den ersten beiden Schwerpunkten trugen die OrganisatorInnen der Tatsache Rechung,
dass sich der Workshop in den letzten Jahren von einer hauptsächlich geschichtswissenschaftlich
orientierten zu einer interdisziplinären Veranstaltung entwickelt hat. Die verstärkte
Interdisziplinarität wurde von den TeilnehmerInnen als große Bereicherung ihrer
Erfahrung im Umgang mit dem Forschungsgegenstand Konzentrationslager empfunden.
Den Auftakt zum diesjährigen Workshop bildete eine Führung durch das Zeitgeschichtemuseum
mit dem Leiter des Hauses, Dr. Wolfgang Quatember, und dem Gedenkstättenmitarbeiter
Andreas Schmoller.
Im daran anschließenden ersten Vortrag beschäftigte sich Alexander Prenninger
(Salzburg) unter dem Titel "Die soziale Praxis des Gedenkens" mit Erinnerungsritualen
in KZ-Gedenkstätten. Prenninger stellte damit gleichzeitig sein Dissertationsvorhaben
vor, in dessen Zentrum die Untersuchung der Befreiungsfeiern steht, die seit Jahrzehnten
in den Monaten April und Mai in vielen KZ-Gedenkstätten stattfinden. Als Methode
erprobt Prenninger das Verfahren der Feldforschung, das bisher eher als Instrumentarium
von Anthropologen, Ethnologen und Soziologen bekannt ist. Ergänzend zu den Beobachtungen,
die er selbst durchführt, wertet Prenninger schriftliche Quellen sowie Bild- und
Tonaufzeichnungen aus. Sein Ziel ist es, die Mauthausener Befreiungsfeiern mit
jenen der Gedenkstätten Dachau und Neuengamme in der Bundesrepublik Deutschland,
Sachsenhausen, Buchenwald und Ravensbrück in der ehemaligen DDR sowie in Auschwitz
zu vergleichen.
In seinem Vortrag "Zwischen Aufklärung und Moral - Was in Führungen erzählt
wird" berichtete Christian Gudehus (Berlin) über seine Arbeit zu Führungen
durch KZ-Gedenkstätten. In der öffentlichen Diskussion über fremdenfeindliche
Gewalttaten werde häufig der Bezug zur nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit
hergestellt, so Gudehus. Dabei werde betont, dass Schulen und Gedenkstätten bei
der Vermittlung von Kenntnissen über diesen Teil der Geschichte besondere Bedeutung
zukommt. Ausgehend von diesen gesellschaftlichen Erwartungen analysiert Gudehus
Inhalt, Struktur und pädagogische Intention von Gedenkstättenführungen. Sein Ziel
ist es, den konkreten Vermittlungsvorgang und dessen Choreographie zu beschreiben,
um letztlich eine Theorie der Funktion von Gedenkstättenbesuchen zu formulieren.
Thomas Köhler (Münster) stellte das Buchprojekt "Lublin-Majdanek. Das
Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen" vor (Juristische
Zeitgeschichte Band 12, Recklinghausen 2003). Das Projekt umfasst eine Auswahl
der von Dieter Ambach in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt beim Düsseldorfer
Majdanek-Prozess aufgezeichneten Zeugenaussagen vor Gericht, die von Ambach und
Köhler gemeinsam ediert werden. Die Zeugenaussagen der insgesamt über 340 Zeugen,
die zwischen 1975 und 1981 im größten und längsten bundesdeutschen Verfahren zu
NS-Gewaltverbrechen gemacht wurden, stellen ein einzigartiges Material dar. Die
gerichtlichen Verhandlungen des Majdanek-Prozesses wurden nämlich weder protokolliert
noch aufgezeichnet. Ambach und Köhler richteten sich bei ihrer Auswahl nach der
zeithistorischen Relevanz der Zeugenaussagen und berücksichtigten besonders solche,
die den Vorgang der Vergasungen und anderer Massentötungen beschreiben. Mit der
vorgelegten Quellenedition möchten die Autoren die historisch-kritische Aufarbeitung
und Nutzung von Prozessakten vorantreiben, die, so Köhler, in der Geschichtswissenschaft
lange Zeit vernachlässigt worden seien.
Klaus-Dieter Mulley (Wien) untersuchte in seinem Beitrag den Stellenwert
nationalsozialistischer Konzentrationslager in der österreichischen Lokal-, Regional-
und Landesgeschichtsschreibung. Er ging dabei von der These aus, dass das KZ-System
nicht nur der zentrale Bestandteil des NS-Regimes war, sondern auch lokal und
regional als rassisch motivierte Lösungsvariante einer "sozialen Frage" angesehen
wurde. Mulley hält deshalb die modernisierungstheoretischen Ansätze sowie die
Untersuchung der Struktur des NS-Herrschaftssystems nicht für ausreichend. Es
komme in der regionalhistorischen Darstellung nicht darauf an, so Mulley, ob und
wie viele Konzentrationslager es in einer bestimmten Region gegeben habe. Vielmehr
sei auch in der historischen Betrachtung eines regionalen Raums die Existenz des
KZ-Systems immer als vorhandene und somit nutzbare Option zur Herstellung und
Aufrechterhaltung der propagierten und offensiv angestrebten "deutsch-arischen
Volksgemeinschaft" zu berücksichtigen.
Der Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Aurélia Kalisky (Paris) unter
dem Titel "Das Lager, der Völkermord und das Unmenschliche" beschäftigte sich
mit den Diskursen des "Unsagbaren" und ihren Widerlegungen in literarischen
Zeugnissen über die nationalsozialistischen Lager. Für Kalisky stellen die Zeugnisse
von Überlebenden die primären Quellen des Holocaust dar. Aufgrund ihrer Einzigartigkeit
könnten und dürften diese Zeitzeugnisse nicht in Frage gestellt werden und seien
gerade deshalb, so Kalisky, selten wissenschaftlich analysiert worden. Kalisky
untersucht in ihrer Dissertation die Phasen der Annäherung an das Thema Holocaust
sowie die Rezeption der Zeugenberichte. Sie konstatierte, dass der Holocaust seit
den 1980er Jahren die zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
einnimmt. Dies habe zu einer "progressiven Auflösung des Darstellungsverbots"
von Adorno sowie zum Entstehen einer großen Menge an Sekundärliteratur geführt.
Mit literarischen Zeugnissen von Überlebenden befasste sich auch die norwegische
Literaturwissenschaftlerin Anette Storeide (Berlin). Sie untersucht in
ihrem Dissertationsprojekt Texte ehemaliger norwegischer Häftlinge des KZ Sachsenhausen.
Es handelt sich dabei vor allem um kurz nach Kriegsende entstandene, selbstständig
verfasste Erinnerungsberichte bzw. um solche, die seit Ende der 1980er Jahre als
Antworten auf Aufrufe und Nachfragen entstanden sind. Während die frühen Berichte
noch mit großem Selbstbewusstsein und unter dem direkten Eindruck der Befreiung
geschrieben worden seien, zeigten die späteren, dass sich die ehemaligen Häftlinge
der Marginalisierung ihrer Rolle in der norwegischen Gesellschaft bewusst wurden.
Grund hierfür sei, so Storeide, die starke Präsenz der norwegischen Widerstandsbewegung
in der öffentlichen Erinnerung, die Aspekte wie die Konzentrationslager in den
Hintergrund gedrängt habe.
Der Vortrag von Christoph Kopke (Berlin) eröffnete die Gruppe der Beiträge,
die sich mit dem Thema "Handlungsfelder im KZ" beschäftigten. In seinem Vortrag
"Das KZ als Experimentierfeld: Der Mediziner Ernst Günther Schenck, das ,deutsche
Heilpflanzenprojekt' und die ,Plantage' im Konzentrationslager Dachau" zeichnete
Kopke einerseits die Geschichte der SS-Firma "Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung
und Verpflegung" und andererseits die Biographie von Schenck nach, der als "Ernährungsinspekteur
der Waffen-SS" und Mitgründer der DVA in mehrfacher Hinsicht in den Konzentrationslagern
sein Betätigungsfeld fand. Kopke stellte dabei klar heraus, dass die geistigen
Vordenker, die Planer und wissenschaftlichen Begleiter, wie Schenck, junge Wissenschaftler
der Universität Heidelberg und Aktivisten der Volksheilkundebewegung waren, die
im Konzentrationslager die Möglichkeit fanden, ihr "Deutsches Heilpflanzenprojekt"
zu realisieren.
Christine Wolters (Hannover) zeigte am Beispiel des SS-Arztes Dr. Rudolf
Brachtel, dass SS-Ärzte, die an medizinischen Versuchen an Häftlingen in Konzentrationslagern
teilnahmen, oftmals unabhängig von Anweisungen ihrer dienstlichen Vorgesetzten
vor Ort Entscheidungen fällen konnten und über größere Handlungsspielräume verfügten
als die SS-Standortärzte, die die Befehlsgewalt über die Krankenreviere der Lager
ausübten. Wolters erläuterte die Konzeption der 1941/42 in Dachau durchgeführten
Tbc-Versuche und wies anhand von Quellen nach, dass Brachtel, der als leitender
Arzt bei den Versuchen fungierte, die Versuchsanordnung manipuliert und dadurch
die Versuche zum Scheitern gebracht hatte. Sein eigenmächtiges Handeln war jedoch
seiner Karriere nicht abträglich, sondern brachte ihm eine lukrative Stelle als
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stab des Reichsarztes-SS ein. Wolters arbeitet
derzeit an einer Dissertation zu Tuberkuloseversuchen in Konzentrationslagern.
Franka Bindernagel und Tobias Bütow (Berlin) stellten in ihrem Vortrag
"Die ,Geilenberg-Lager' und die Delegation der Macht" sowohl Teile ihres im
Erscheinen begriffenen Buches (Tobias Bütow, Franka Bindernagel, Ein KZ in der
Nachbarschaft. Das Magdeburger Außenlager der Brabag und der "Freundeskreis Himmler",
Köln 2003) vor als auch das weiterführende Forschungsprojekt von Franka Bindernagel
über die Ingenieure des "Geilenberg-Stabs" als Entscheidungsträger des Einsatzes
von KZ-Häftlingen. Im "Geilenberg-Programm", das Ende Mai 1944 von Albert Speer
initiiert wurde, arbeiteten 350.000 Menschen, darunter etwa 100.000 Häftlinge,
die Rüstungsministerium, Industrie und SS unter brutalen Bedingungen zu Räum-
und Bauarbeiten in durch Bombardierungen beschädigten Treibstoffwerken und zur
unterirdischen Verlagerung von Hydrieranlagen einsetzten. Am Beispiel von sechs
Außenlagern der Braunkohle-Benzin-AG (Brabag) zeichneten Bütow und Bindernagel
die Organisations- und Entscheidungsstrukturen des Geilenberg-Programms nach und
stellten dabei heraus, dass es sich bei den Biographien der Ingenieure, die als
Werksbeauftragte fungierten, um ein wichtiges Desiderat der Forschung zu den Konzentrationslagern
handelt.
In seinem Vortrag "Die ,Gerichtskommission' des KZ Bergen-Belsen: Sozialhygiene
oder Kollaboration?" stellte John Cramer (Bayreuth) neue Forschungsergebnisse
zu jüdischen Häftlingen in Bergen-Belsen vor. Bei der "Gerichtskommission" handelte
es sich um ein auf einen Lagerbereich mit so genannten "Austauschjuden" beschränktes,
auf Beschluss des jüdischen "Ältestenrates" eingesetztes und von der SS toleriertes
Häftlingsgericht zur Verhandlung von als "asozial" oder "amoralisch" betrachteten
Vergehen gegen die Insassengemeinschaft. Cramer betonte, dass das Wirken der Gerichtskommission
die These vom KZ als grundsätzlich "rechtsfreiem Raum" widerlege. Gleichzeitig
akzentuiere sich im Bemühen der "Gerichtskommission", Grundsätze positiven Rechts
zur Geltung zu bringen, auf besondere Weise die Absurdität "normaler" Handlungsmuster
angesichts der Extremsituation des Konzentrationslagers, so Cramers These. Wenngleich
die Mitglieder der Kommission ihre Tätigkeit als einen Akt der Sozialhygiene verstanden
wissen wollten, machten sie sich zwangsläufig zu "Exekutionsgehilfen des Terrors"
(Sofsky) und gerieten damit in das Dilemma des "schuldlos Schuldigwerdens".
Andreas Mix (Berlin) beschäftigte sich in seinem Vortrag "Tausch, Handel,
Korruption - Häftlinge, Zivilarbeiter, Lager-SS und der Abriss des Warschauer
Ghettos" mit dem Konzentrationslager Warschau, das im Juni 1943 errichtet wurde.
Für die Häftlinge war die schwere körperliche Arbeit eine permanente Lebensbedrohung,
ermöglichte ihnen jedoch gleichzeitig, Wertgegenstände an sich zu nehmen, die
sie gegen Lebensmittel eintauschen konnten. Der Arbeitsplatz im Ghetto sei, so
Mix, ein Ort von Tauschhandel und Korruption gewesen. Aufgrund verschiedener Faktoren
gelang es den Häftlingen in unterschiedlichem Maß, sich Zugang zu Tauschobjekten
zu verschaffen, wodurch die Ungleichheit unter den Häftlingen verschärft worden
sei. Die Heterogenität der SS-Wachmannschaft begünstigte zusätzlich die Korruption.
Außerdem hätten polnische Arbeiter deutscher Baufirmen von der Situation profitiert,
indem sie ihre eigene materielle Versorgung aufbesserten. Dadurch seien die Trennlinien
zwischen den einzelnen Gruppen durchlässig geworden, so Mix' These.
Informationsflüsse und Kontaktaufnahmen von KZ-Inhaftierten zu Mittelspersonen
aus dem Widerstand konnten nicht ohne die Unterstützung von RegimegegnerInnen
außerhalb des KZs funktionieren, so die These von Martina Gugglberger (Linz)
in ihrem Vortrag ,"... und hat mir eine Nachricht zukommen lassen' - Interaktionsfelder
von Frauen im Widerstand und KZ-Häftlingen". Am Beispiel der Flucht des Widerstandskämpfers
Josef Plieseis zeigte Gugglberger, wie diese erst durch die Unterstützung der
kommunistischen Arbeiterinnen Agnes Primocic und Therese Pesendorfer möglich wurde.
Gugglberger untersucht die Frage, wieweit von diesen Frauen bei ihren Widerstandshandlungen
bewusst geschlechtsspezifische Rollenbilder eingesetzt wurden bzw. inwieweit diesen
Handlungen ein Selbstverständnis als politisch aktive Frau zugrunde lag. Dabei
sieht Gugglberger sich mit dem Problem konfrontiert, dass das Quellenmaterial
zu den Frauen, die auf diese Weise aktiv Widerstand leisteten, vergleichsweise
dürftig ist, da sie auch in der Nachkriegszeit von der Widerstandsforschung weitgehend
unbeachtet blieben.
Ebenso wie die Ergebnisse der vergangenen Workshops sollen auch die Vorträge aus
diesem Jahr in einem Aufsatzband veröffentlicht werden. Die Beiträge der letztjährigen
Tagung sind kürzlich in einem Sammelband mit dem Titel "Tatort KZ" (Ulrich Fritz,
Silvija Kavcic, Nicole Warmbold (Hrsg.), Tatort KZ. Neue Beiträge zur Geschichte
der Konzentrationslager, Ulm 2003) erschienen, der am Rande der Tagung in Ebensee
vorgestellt wurde. Der nächste Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager
wird im Herbst 2004 in der Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm stattfinden.
Verein Arche - Plattform für
interkulturelle und wissenschaftliche Projekte (Wien)
http://www.arche.or.at
Stiftung Topographie des Terrors (Berlin)
http://www.topographie.de
Gedenkstätte und Zeitgeschichtemuseum
Ebensee (Oberösterreich)
http://www.ebensee.org