Ein Stück Nicht-Zeit in der Zeit
Historische Ausstellungen als Foren von Öffentlichkeit
Anna Schober
Historische
Ausstellungen möchte ich zunächst, unter Entlehnung eines
Begriffes von Hannah Arendt, als "öffentlichen
Erscheinungsraum" bezeichnen, sie sind Räume, in denen wir
Qualitäten finden können, die uns miteinander verbinden und
trennen.1
Es geht mir demnach um die Frage, welche Rolle die Ästhetik,
historische Objekte und Inszenierungen von Geschichte bei der
Aufrechterhaltung eines spezifisch politischen Lebens spielen?
Die
große Bedeutsamkeit, mit der heute in der westlichen
postmodernen Welt die Erfindung von Tradition aufgeladen ist, rührt
von einer umfassenden Verschiebung und Transformation her, die in der
Moderne einsetzt. Denn dieser Wandel, den wir "Moderne" nennen,
involviert die Herausbildung einer neuen Form des In-der-Welt-Seins,
die von einer irreparablen Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft
gekennzeichnet ist, einer Kluft, in der Fragen der Bedeutung unser
Sein bedrängen, aber auch Möglichkeitsmomente darstellen.2
Edward Said hat diese massive Erfindung von Tradition in der
Jetztzeit als Verfahrensweise beschrieben, mit der sowohl Herrscher
als auch Beherrschte Sinn und Identität herzustellen vermögen.3
Dies geschieht in einer Massengesellschaft, in der die kleinen
sozialen Einheiten der Dörfer und Familien sowie die großen
Religionen wegzubrechen beginnen und andere Wege gefragt waren, eine
erhebliche Zahl von Menschen miteinander zu verbinden.
Ich
beginne mit einer Zurückweisung, und zwar insofern als
Ausstellungen nicht, wie oft angenommen wird, leere und transparente
Räume sind, die erst nach und nach mit erkennbaren Objekten und
Architekturen bestückt und schlußendlich dann von einem
Publikum besucht werden. Denn die Vorstellung einer solchen Leere und
eines solchen Überall und Nirgendwo ist und war Grundpfeiler
einer westlichen, eurozentrischen Wissensstruktur und steht in engem
Zusammenhang mit Träumen vollkommenen Kennens und Wissens des
Anderen, mit dem Sich-Herausheben einzelner Wissender aus der Masse
der Zu-Belehrenden und mit der Durchsetzung gewisser Blickformen. Dem
möchte ich entgegenhalten, daß Ausstellungen wie auch
Museen immer schon sozial gefertigte Räume sind, d. h. Räume,
die soziale Aus- und Einschlüsse produzieren, in denen bestimmte
Bewunderungen und Verleugnungen zirkulieren und in denen sich
unterschiedliche Logiken gegenüberstehen und gelegentlich
aufeinanderprallen - etwa der Wissenschaft, der Mythen, der Kunst;
oder der Geschichtsschreibung, des Gedächtnisses und der
individuellen Erinnerung.4
Darüber
hinaus sind Museen und Ausstellungen aber auch besondere sozial
gemachte Räume. Sie sind Element in einem weitgespannten
Beziehungsnetz und unterliegen einer, wie Michel de Certeau es nennt",Zensur des Ortes".5
In ihnen stellt sich die Frage nach dem, was als Legitimes
repräsentiert und was als Nicht-Legitimes ausgeschlossen wird,
demnach auf eine besondere Weise. Was hier zutage tritt, sind die
Gesetze des Ortes: der Ort erlaubt und verbietet, ermöglicht und
verunmöglicht und spielt gewissermaßen die Rolle einer
Zensur.
Die Geschichte ist also eine Operation, die in
Beziehung steht zu bestimmten Orten, oder "Laboratorien", zu einem
kollektiven analytischen Verfahren und zu kollektiven
Inszenierungsformen. Geschichte ist somit Teil der Realität, die
sie erforscht. Ausstellungen stehen dabei mit dem Laboratorium der
Wissenschaft, der Museen oder der Kunst genauso in Verbindung wie mit
den Orten der Politik und der Wirtschaft. Allerdings sagt dies, und
das ist wichtig festzuhalten, noch nichts darüber aus, was in
einem Geschichtsbuch oder in einer Ausstellung dann auch produziert
ist - die Beziehung zum Laboratorium stellt kein hierarchisches
Abhängigkeitsverhältnis dar.
Eine Möglichkeit,
das Spezifische der historischen Erzählung in Ausstellungen
erfassen zu können, besteht darin, die Praxis des
Ausstellungsmachens schrittweise nachzuvollziehen, und, wie für
Historiker üblich, gehe ich auch hier von einem gesetzten Anfang
aus.
Der erste Schritt ist ein Isolieren: In der Geschichte
beginnt alles mit dem "Beiseitelegen", mit dem Herausschneiden
bestimmter Objekte aus der Gebrauchssphäre. Die dabei gewonnenen
Dokumente, z. B. ein Schlitten, sind davon gekennzeichnet, daß
sie von ihrem ursprünglichen Gebrauchs- und
Funktionszusammenhang abgetrennt sind. Mit dieser Vereinzelung und
Isolierung tritt aber auch die Eigenschaft eines Gegenstandes in den
Hintergrund, überhaupt Funktionen zu haben, sein formaler,
ästhetischer Charakter tritt in den Vordergrund. Zugleich werden
dem Gegenstand neue Bedeutungen zudiktiert. Er erhält im Rahmen
der von der Geschichtswissenschaft festgelegten, Inhalte eine
Zeugnisfunktion und legitimiert diese.6
Dennoch gehen die Objekte nicht in dieser "legitimen
Zeugnisfunktion" auf. Sie können gegenüber ihren
Betrachtern immer anders "den Blick aufschlagen".
Was damit
gemeint ist, kann ein Zitat des österreichischen Schriftstellers
Chistoph Ransmayr verdeutlichen, der über einen bei der
österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition im Jahre 1873
benutzten Schlitten folgendes geschrieben hat:
"Sieben Zentner wiegt ihr Schlitten. Ihre Arbeit ist kein Ziehen, sondern ein Zerren und Reißen an der Last, eine erschöpfende Einübung in die Qual, die sie auf der Rückkehr nach Europa erwartet. Immer wieder müssen sie ihr Gefährt entladen - die Kochmaschine, das Zelt, die Petroleumfässer, den Proviant, müssen alles Stück für Sück fortschaffen, um wenigstens mit dem leeren Schlitten über die Eishöcker, die Hummocks, zu kommen. Manchmal bahnen sie sich ihren Weg mit Spitzhacke und Schaufel. Das Eis ist wie Stein. Wenn einer nach der Mittagsrast, die sie zusammengekauert hinter Eisklippen oder Felsen verbringen, erst recht in den Schnee zurücksinkt und einfach liegenbleiben will, droht Payer ihn allein zurückzulassen."7
Dieser Schlitten, von dem hier die
Rede ist, steht in der Schausammlung des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien
ausgestellt. Das bei Ransmayr angesprochene soziale Zwang- und Konfliktverhältnis
ist in der Museumspräsentation dieses Schlittens jedoch vergessen gemacht.
Das auf einem kleinen Sockel und mit einer roten Kordel vom Publikum abgegrenzte
Schlitten-Objekt wird hier zu einem "sauberen" Zeugnis der Entdeckergeschichte
des österreichischen Militärs. Denn im Kontext der rundherum plazierten
Gemälde des Militärstrategen und
späteren Malers Payer,
die ebenfalls diese Nordpolexpedition zum Thema haben, kommt diesem "marginalen"
Objekt vor allem die Funktion zu, die hier dargestellten Helden- und Entdeckergeschichten
zu bewahrheiten. Die auf diese Weise inszenatorisch nahegelegte Betrachterposition
ist ebenfalls eine des Bewunderns und Bestaunens, mit der die in den Texten
Ransmayrs noch offengehaltenen sozialen und konfliktvollen Beziehungen und Hierarchien
abgewehrt und verleugnet werden.
Damit sind wir aber schon längst bei
einem weiteren Schritt der Ausstellungsproduktion: beim Zusammenfügen
und Inszenieren. Die Inszenierung kann uns Objekte wie den eben
genannten Schlitten als Huldigungsobjekte präsentieren, die eine
abschließende Rezeption fordern, - sie kann also das Heterogene
synthetisieren. Die Inszenierung kann aber, etwa durch die forcierte
Montage von herkömmlicherweise nicht zusammen auftretenden
Objekten zueinander, das Heterogene auch offenhalten.
Ausstellungsinszenierungen haben so auch die Möglichkeit,
Aufmerksamkeit zu halten und eine Chiffre des Vielfältigen
anzubieten, das sich nicht systematisieren und abschließen
läßt.
Ausstellungen sind "in der Zeit erstarrt"
und sind damit, in Zusammenspiel mit den Vitrinen, Licht- und
Tongestaltungen und nicht zuletzt mit den Bauten und Gebäuden,
in denen sie gezeigt werden",Architekturen aus Details", wie ich
sie nennen möchte. Sie sind als solche von Simultaneität
gekennzeichnet und nicht, wie andere Medien der visuellen
Kommunikation, beispielsweise das Theater oder der Film, von
Sukzession.
Die Erzählung einer Ausstellung ist dabei,
wie die Vergegenwärtigung in der geschriebenen Geschichte, immer
didaktisch, d. h. auf einen mitgedachten idealen Betrachter hin
orientiert. Sie übt damit Macht aus, eröffnet aber auch
Auswege.
Denn das kollektive Unbewußte kann -als ins
Gedächtnis eintretende überraschende Erinnerung- das
Privileg der legitimierten Geschichtsspezialisten immer auch
unterlaufen.
Museen, Galerien und Ausstellungshäuser
bieten so ein geschütztes Refugium für bestimmte
Positionen, für ein Sich-Zeigen und Hören unterschiedlicher
Stimmen. Zugleich sind diese Räume aber geschützte
Enklaven, die genau kontrolliert werden, Geschichte
"neutralisieren" und ein bestimmtes ritualisiertes
Rezeptionsverhalten des Publikums provozieren, dem langsames Gehen
und bestaunendes Schweigen oft angemessener erscheint als Nachfragen
oder Diskutieren. Dennoch, auch wenn Ausstellungen gewissermaßen
"neutralisierte" Orte sind, so besteht grundsätzlich immer die
Möglichkeit, daß in ihnen eine ästhetische Erfahrung
wirksam wird, die das Erleben von Pluralität, Partikularität,
des Überraschenden und Ungewöhnlichen beinhaltet und so
unseren Sinn für Realität vertieft.8
Auf diese Weise können sich Ausstellungen einer aktuellen
Tendenz entgegenstellen, - einer Entwicklung hin zur Ausbreitung
sozialer Räume und Beziehungen, die von der pluralen,
heterogenen Qualität der Erfahrung des Neuen und Merkwürdigen
"gereinigt" sind.
Ausstellungen können also die
Möglichkeit zu einer kontextbezogenen Auseinandersetzung
bereitstellen, Foren, in denen wir, wie die Figur in Kafkas Erzählung
"Er", in einen Kampf in zwei Richtungen eintreten und uns ein Stück
Nicht-Zeit aus der Zeit herausbrechen.9
"Er hat zwei Gegner, der Erste bedrängt ihn von rückwärts vom Ursprung her, der Zweite verwehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch, denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigentlich seine Absichten?"10
Dieser Raum der
Nicht-Zeit ist eine Art Event und gleichzeitig eine Bruchstelle. Die
Benjaminsche messianische Zeit11
kann somit aus der homogenen und leeren Zeit, wie sie in vielen
Ausstellungen immer noch projektiert ist, herausgeschlagen werden.
Dieser Raum der Nicht-Zeit ist dabei Raum der Reflexion in der Zeit
und über die Welt, ein Denkraum, dem das Treffen einer
Signifikanz in der Wahrnehmung vorausgeht.
Ausstellungen sind
demnach zugleich Foren der Repräsentation von Macht und Foren
der Kritik. In ihnen kann ein Stück Nicht-Zeit aus der Zeit
herausgebrochen werden, und auf diese Weise kann, momenthaft und
punktuell, von existierenden Mustern des Vergessens abgewichen und in
eine andere Richtung gewiesen werden, auch wenn sie, ebenfalls
momenthaft und punktuell, an anderen Stellen genießende
Zustimmung zu existierenden Mustern des Vergessens und Erinnerns
erheischen. Dieser Verfahrenskomplex der Geschichts- und
Gedächtnisproduktion spielt sich an der veränderlichen
Grenze zwischen Vorgegebenem und Geschaffenem ab. "Aus Abfällen,
Papieren, Gemüsepflanzen und `ewigem Schnee' macht der
Historiker etwas anderes: er macht daraus Geschichte. Er hat an der
Arbeit teil, die die Natur in Umwelt verwandelt und so auch die Natur
des Menschen verändert."12
Auch der Sich-Erinnernde macht aus Abfällen, Papieren und
Gemüsepflanzen etwas anderes - er macht es nur in anderen
Laboratorien, die von einer anderen Zensur des Ortes beherrscht sind,
was heißt, es gibt doch Unterschiede zwischen Geschichts- und
Gedächtnisproduktionen, eben den, daß hier eine
unterschiedliche Durchsetzungsmacht im Spiel ist, aber eben doch im
Spiel, oder besser im Streit. Denn hier kämpft einerseits der
Eine wie in Kafkas Erzählung um sein Stück Nicht-Zeit in
der Zeit, andererseits will dieser Eine eben auch etwas und tendiert
so in die eine Richtung oder die andere, bestätigt und
widerspricht, d. h. ist in einen Streit um Anerkennung involviert.