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Diana Schulle, Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik
(Dissertation, Philosophische Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2000), Logos: Berlin 2001.

von Susanne Benöhr

Der promovierte Chemiker und spätere "Sachverständige für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern" Achim Gerke pflegte bereits in jungen Jahren ein bizzares Hobby: Er untersuchte seine Umwelt auf "jüdische Einflüsse" (S. 35). Zunächst erregten die Professoren der Göttinger Universität seine Aufmerksamkeit. Danach widmete er sich der Universität Breslau, an der sein Vater als Rektor fungiert hatte. Die Antriebsfeder für seine Forschungen bildete die Frage, wie groß der Einfluss des Judentums auf die deutsche Wissenschaft sei. Damit verbunden versuchte er zu ergründen, ob die Forschung Änderungen in ihrer Auffassung und Richtung erlitten habe oder überhaupt etwas ganz anderes "in den Händen der Vertreter des Judentums - geworden ist" (S. 35). Die Ergebnisse seiner Arbeit veröffentlichte er in "Handschriften", wobei er zur Verdeutlichung auf jedem Titelblatt den Prozentsatz der "verjudeten" Professoren der jeweils untersuchten Fakultät angab (S. 36). Im Laufe seiner Forschungen legte Gerke eine Namenskartei an, die im Jahre 1932 bereits etwa 400.000 (!) Karten umfasste (S. 41). Angesichts dessen war ihm sowohl das Interesse wie auch das Wohlwollen der Reichsleitung der NSDAP gewiss.

Bereits dieses Eingangskapitel in Diana Schulles Studie über "Das Reichssippenamt" lässt aufmerken. In der Tat untersucht die Autorin nicht nur die Struktur eines Amtes, dessen Aufgabe darin bestand, die nationalsozialistische Rassenpolitik umzusetzen. Es gelang ihr darüber hinaus, den ersten Amtsleiter zu befragen (S. 17f). So ist ein überaus aufschlussreiches Porträt der Gedankenwelt eines Intellektuellen aus gutem Hause entstanden, der sich auf seine Art mit dem Judentum beschäftigte.

Das "Reichssippenamt" und seine Vorläuferbehörden, nämlich das Amt des "Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern" und die "Reichsstelle für Sippenforschung", sind in der Vergangenheit kaum erforscht worden1. Über die Gründe kann man spekulieren, sicher spielt jedoch das schwierige Konglomerat aus staatsorganisatorischen, verwaltungsrechtlichen, beamtenrechtlichen, politischen und nicht zuletzt historischen Fragen eine Rolle. Diana Schulles Analyse umfasst hauptsächlich die Entstehung, die Querverbindungen, den Aufgabenkreis, die Arbeitsorganisation, die ideologische Motivation und nicht zuletzt die Hauptakteure der bezeichneten Ämter. Demzufolge wird derjenige nicht fündig, der eine detaillierte Schilderung des pseudowissenschaftlichen Procedere der nationalsozialistischen "Rassendiagnostik" sucht.

Die Entwicklung der Dienststelle vollzog sich in drei Phasen. Damit einher gingen sowohl eine Änderung in den Amtsbezeichnungen wie auch eine sukzessive Erweiterung des Tätigkeitsgebietes. Der Zuständigkeitsbereich des "Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern" (1933-1935) ergab sich zunächst aus § 3 des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", wonach ein Beamter "nicht arischer" Abstammung in den Ruhestand zu versetzen sei (S. 73f). Folglich erstreckte sich die Tätigkeit im Wesentlichen darauf, die staatstragende Beamtenschicht und ab Sommer 1933 auch ihre Ehepartner auf "fremdblütige Bestandteile" zu kontrollieren, was mit Hilfe von Ahnenlisten geschah (S. 9, 74, 376). Gegenstand des Interesses waren in erster Linie die Beschäftigten der Stammbehörde, des "Reichsministeriums des Innern". Andere Ämter sollten nur in Zweifelsfällen Abstammungsgutachten von Gerkes Dienststelle einholen (S.376), der seinerseits rasch zum Günstling von Reichsinnenminister Frick avancierte. Allerdings war Gerke nur zwei Jahre in leitender Funktion tätig. Im Jahre 1935 verfing er sich in einer amtsinternen- und parteipolitischen Intrige und wurde entlassen (S. 154, 155).

Seine Nachfolge trat der promovierte Historiker Kurt Mayer an. Mit dem Wechsel der Amtsleitung ging eine Änderung der Amtsbezeichnung einher (S.161). Fortab fungierte das Amt bis 1939 unter dem Namen "Reichsstelle für Sippenforschung". Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Sippenforschung für die "Ariergesetzgebung" vergrößerte sich der Aufgabenbereich entsprechend. Die Dienststelle stieg u.a. zur allein zuständigen Stelle bei der Durchführung der "Nürnberger Gesetze", der Überprüfung von NSDAP-Mitgliedern, für Zweifelsfälle über die rassische Einordnung sowie für Entscheidungen hinsichtlich der Abstammung nach rassekundlichen Kriterien bei anthropologischen Untersuchungen empor (S. 163, 164). Im Zuge der Konstitution des "Reichssippenamtes" im Jahre 1939 erfolgte schließlich der Aufbau von "Gau- und Landessippenämtern". Ferner wurden u.a. Zweigstellen in Wien, Prag und Luxemburg eingerichtet (S. 231, 294f). Bis zum Ende des Krieges ist das "Reichssippenamt" eine funktionsfähige Behörde gewesen, was allein die Erstellung von 525 Gutachten im Jahre 1945 unter Beweis stellt (S.373).

Dies ist jedoch nur der vordergründige Eindruck. Diana Schulle zeigt in ihrer Analyse, dass sich das "Reichssippenamt" in dem bereits von Fraenkel2 dargestellten doppelstaatlichen Geflecht verfing. Im Laufe der Jahre hatte sich eine wahre "Rasseforschungshysterie" herauskristallisiert (S. 328), in der jeder eigenmächtig agierte (S. 378). In einem Durcheinander von Kompetenzen auf staatlicher, parteilicher und nicht zuletzt kirchlicher Führungsebene wurde zum Teil in Zweifelsfällen selber geurteilt bzw. das "Reichssippenamt" gar nicht informiert (S. 318). Dies war nicht zuletzt auch deswegen möglich, weil das "Sippenamtsgesetz" per Führerbefehl zurückgezogen wurde (S. 272).

Das Amt bewegte sich im gesetzlosen Raum, was in diversen Fällen die probate Möglichkeit eröffnete, den "Abstammungsnachweis" zu unterlaufen. Diana Schulle nennt in diesem Kontext den "Fall Iffländer" aus dem Jahre 1938. Iffländer, ein städtischer Beamter, war die Beförderung verweigert worden, weil seine Frau von der "Reichsstelle für Sippenforschung" als ein "Mischling 2. Grades" eingestuft worden war. Als Beamter hätte er daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen und sich von seiner Frau trennen müssen. Des "Falls Iffländer" nahm sich jedoch Lammers - als Chef der Reichskanzlei - persönlich an. Er bewirkte nicht nur eine Aufhebung des Gutachtens, er wies vielmehr den Reichsinnenminister als vorgesetzte Dienststelle an, in Zukunft in derartigen Angelegenheiten zugunsten des Prüflings zu entscheiden (S. 330, 331).

Doch nicht nur der "Fall Iffländer" mag als Beispiel für Diana Schulles These dienen. Die Verbindung von staatlichen und halbstaatlichen Behörden, in der sich nach dem Willen der NS-Führung die einflussreichste Dienststelle und damit die brauchbarsten und besten Kräfte durchsetzen sollten (S. 378), offenbart auch der folgende authentische Fall aus dem Jahre 1933: Frau W. wurde bereits wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bei der Gestapo als "Jüdin" denunziert. Angezeigt hatten sie ihre langjährigen Nachbarn. Frau W.s krause schwarze Haare und dunkle Augen waren ihnen "verdächtig jüdisch" vorgekommen. Für Frau W. und ihren Ehemann - einen Reichsbahnbeamten - bahnte sich eine Katastrophe an, denn sie war überdies unehelich geboren und konnte folglich ihre "arische Herkunft" nicht beweisen. Zweimal auffällig geworden, wurde sie damit zu einem potentiellen Fall für Gerke, den "Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern". Lediglich der Intervention eines Reichsbahnbehördenleiters ist es zu verdanken, dass Frau W.s Fall nicht gemeldet wurde3. Ihr Ehemann erklärte an Eides Statt, bei seiner Ehre als deutscher Beamter, dass seine Frau keine "Halbjüdin" sei. Dieser Schwur, ebenso grotesk wie wirkungsvoll, ermöglichte es der gesamten Familie, die Zeit des Nationalsozialismus unversehrt zu überstehen4.

In bezeichnender Weise belegen diese beiden Fälle, dass für die Betroffenen zumindest die - wenn auch geringe - Chance bestand, den "Ariernachweis" für ihre Ehegatten zu umgehen, soweit es sich einerseits um Beamte und andererseits um divergierende Behördeninteressen handelte. Gleichwohl wäre es verfehlt, aus diesen beiden Fällen eine gewohnheitsrechtliche Gesetzmäßigkeit herleiten zu wollen. In Anbetracht von 151.898 erteilten Abstammungsbescheiden in zehn Jahren (1933-1943) dürfte trotz allem die Zusammenarbeit zwischen kirchlichen, staatlichen und parteilichen Stellen reibungslos funktioniert haben (S. 170). Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ergab sich außerdem die Gelegenheit, das Gesamtarchiv der deutschen Juden zu nutzen. Dieses wohl geordnete Berliner Archiv mit einer Vielzahl von Familienurkunden war für die "Reichsstelle für Sippenforschung" bzw. das "Reichssippenamt" unersetzbar (S. 348). Nunmehr konnte die Gegenkontrolle durchgeführt werden. Wer in den Kirchenbüchern nicht geführt wurde, war höchstwahrscheinlich in den Unterlagen der jüdischen Gemeinde verzeichnet.

In diesem Kontext sind Diana Schulles Ausführungen zur Person des Archivars Jacob Jacobson besonders lesenswert. Er war von der Behörde dazu bestimmt worden, die Nachweise aus den jüdischen Gemeindebüchern zu erstellen (S. 349). Das bedeutete eine Gratwanderung, da nicht wenige Betroffene verlangten, die verfänglichen Eintragungen zu unterdrücken bzw. die betreffenden Seiten herauszureißen (S. 349). Spätestens nach der Wannseekonferenz wurde das "Reichssippenamt" zu einem ausgesprochen effektiven Zuarbeiter für die Vernichtungsmaschinerie. Dabei galt bis zum Kriegsende den jüdischen Registern die ganze Aufmerksamkeit. Mit Hilfe von Mikroverfilmungen, also modernster Technik5, wurde ihrer Fixierung Priorität eingeräumt. (S. 368).

Diana Schulles Buch ist aufschlussreich, faktenreich und angesichts der eher spröden Materie sehr eingängig geschrieben. Die Autorin seziert exakt Schicht für Schicht das Innenleben des "Reichssippenamts" und seiner Vorläufer. Dennoch bleiben Fragen. Und nicht zuletzt das Schlusswort sorgt für einen dissonanten Klang. Zum einen bleibt unklar, warum Achim Gerke derart passioniert "jüdischen Einflüssen" nachgegangen ist. Offenbar hat die Autorin ihm diese Frage nie gestellt, was zumindest verwundert6. Zum anderen muss man sich immer vergegenwärtigen, dass die Verwaltung, und dazu gehörte das "Reichssippenamt", mit ihren Gutachten und Bewertungen eine "Außenwirkung" erzeugte. Was das für viele Betroffene bedeutete, kann man sich leicht vorstellen.

Angesichts dessen bleibt der Leser ratlos zurück, wenn die letzte Passage in diesem wichtigen Buch dem Leiter des "Reichssippenamtes" gewidmet ist. Was mag sich die Autorin gedacht haben, als sie konstatiert, dass Kurt Mayer im Mai 1945 erkannte, "dass sich seine Erwartungen, Wünsche und Ziele abrupt in Nichts auflösten. Alles, wofür er gekämpft und gelebt hatte, war schlagartig bedeutungslos, mehr noch, es kehrte sich gegen ihn." (S. 382, 383). Ganz davon einmal abgesehen, dass dieses Schicksal Millionen Menschen traf, deren Unheil unter einem anderen Vor-"Zeichen" stand, so war es Kurt Mayers vornehmliches Lebensziel, der nationalsozialistischen Rassenpolitik zum Erfolg zu verhelfen. Dies umfasste die Stigmatisierung, die Ausgrenzung und schließlich den Genozid an den Juden.


1 Zu nennen wäre hier insbesondere: Horst Seidler/Andreas Rett: Das Reichssippenamt entscheidet. Rassenbiologie im Nationalsozialismus, Wien 1982.
2 Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat, Frankfurt/Main-Köln 1974.
3 Gemäß § 4 A. Nr. 6 der Änderung der Personalordnung der Deutschen Reichsbahngesellschaft vom 7. November 1933 (52.504 PO, RMBl. 1933, S. 672) konnte von der "arischen Abstammung" des Ehegatten eine Ausnahme gemacht werden, wenn "dringende Rücksichten der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft es erfordern". In diesen Fällen konnte der Generaldirektor in Einzelfällen Ausnahmen zulassen.
4 Der Fall von Frau W. ist der Rezensentin persönlich bekannt. Auf Wunsch der Angehörigen erfolgte die Anonymisierung.
5 Zur Verwendung von Hollerith-Maschinen bei der Erfassung der jüdischen Bevölkerung vgl.: Edwin Black: IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München-Berlin 2001.
6 Diana Schulle versucht u.a. Gerkes feindliche Einstellung gegenüber den Juden mit der geopolitischen Lage seiner Heimatstadt Breslau zu erklären (S. 63).


Logos Verlag

Susanne Benöhr ist Assessorin, Lehrbeauftragte für Staats- und Verfassungsrecht an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Bremen und für Vergleichende Verfassungsgeschichte an der Universität Bremen, Jahrgang 1967.

Veröffentlichungen u.a.:
Susanne Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz. Zu den Ursprüngen der Parteienstaatslehre, Baden-Baden 1999.


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