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Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. Fischer: Frankfurt a. M. 2000.
von Martin Moll



In den letzten Jahren haben Historiker aus dem angelsächsischen Sprachraum gleich mehrere Synthesen zur Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt: Nach Ian Kershaws monumentaler, zweibändiger Hitler-Biographie, die über eine bloße Lebensdarstellung ihres Protagonisten weit hinausgeht und insbesondere im zweiten Teil einer Gesamtgeschichte des Dritten Reiches nahe kommt, legt Michael Burleigh nunmehr einen voluminösen Band vor, den er als "Gesamtdarstellung" des Nationalsozialismus in seiner Zeit bezeichnet. Sieht man von einer Reihe verdienstvoller, aber nur die groben Linien zeichnender Grundrisse und Überblickswerke ab, so wurde eine breit angelegte Synthese letztmalig 1986 mit Hans-Ulrich Thamers "Verführung und Gewalt" präsentiert. In Anbetracht der seit damals weiter ausgeuferten, kaum mehr überschaubaren Spezialforschungen besteht durchaus Bedarf an einer Bilanz, für die unter heutigen Verhältnissen selbst der Fachmann dankbar sein wird. Ob der vielbeschworene interessierte Laie die Energie aufbringt, ein mehr als tausendseitiges Werk wie dieses durchzuarbeiten, darf eher bezweifelt werden, auch wenn es in einer angenehmen und verständlichen Sprache geschrieben ist.

Der Selbsteinschätzung des Verlages auf dem Klappentext zufolge schließt die "Gesamtdarstellung" Burleighs jene Lücke, die das Fehlen einer großen historiographischen Synthese bislang bedeutete. Damit wird beim Leser die berechtigte Erwartung geweckt, das Buch werde ungeachtet gewisser Schwerpunktsetzungen den Versuch unternehmen, die Vorgeschichte des Nationalsozialismus und seine zwölfjährige Herrschaft in allen wesentlichen Aspekten mehr oder minder ausgewogen zu behandeln. Burleigh beschreitet freilich einen völlig anderen Weg, der allerdings in den ersten Kapiteln noch nicht erkennbar ist. Gleich eingangs dämpft er die Erwartungen der Leser, indem er mitteilt, er wolle keine neuen Einsichten vermitteln (S. 2 f.), sondern die Literatur zusammenfassen, wobei er sich lieber auf ältere, aber fundierte Konzepte stütze als auf neue, dafür jedoch halbgare (S. 39 f.). Dagegen ist wenig einzuwenden, wenn es auch überrascht, dass die in den letzten Jahren reaktivierte Totalitarismus-Theorie hier erstmals explizit als theoretischer Rahmen einer derart breit angelegten Studie gewählt wird. Burleigh modifiziert sie dahingehend, dass er nachdrücklich den Charakter des Nationalsozialismus als eine politische Religion hervorhebt, die ihre Energien gerade aus dem Anspruch bezog, chiliastische Heilserwartungen im Diesseits verwirklichen zu wollen. Zu bedauern bleibt, dass das in der Einleitung entwickelte Interpretationsschema in der Folge nur sporadisch tatsächlich angewandt wird. Wohl finden sich über das ganze Buch verstreut Hinweise auf Parallelen und korrespondierende Vorgänge in der Sowjetunion unter Stalin, doch wird keinerlei systematischer Vergleich der beiden Regime an der Macht unternommen.

Im ersten Kapitel widmet sich der Verfasser auf rund 130 Seiten den Anfängen der NS-Bewegung und deren Aufstieg. Hierbei greift er teilweise weit ins 19. Jahrhundert zurück und betont in weiterer Folge den verheerenden Einfluss der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Burleighs Erklärungen für das Scheitern der Weimarer Republik enthalten nichts Sensationelles, wohl aber eine ausgewogene Bilanz älterer Forschungen. Inmitten der Vielzahl faktischer und möglicher Ursachen setzt der Verfasser einen Akzent auf die verhängnisvolle Rolle jener "alten Eliten", die in völliger Verkennung der Situation glaubten, Hitler als Kanzler "zähmen" zu können. Die "Machtergreifung" vom 30. Januar 1933 bedeutet nicht nur in der Geschichte der NSDAP eine nachhaltige Zäsur, mit ihr wandeln sich auch Anlage und Stil des Buches. Ab dem zweiten, der Zerstörung des Rechtsstaates gewidmeten Kapitel geht es Burleigh vorrangig darum, das Tempo und die Konsequenz darzustellen, mit denen der Nationalsozialismus an der Macht an die Umsetzung seiner ideologischen Vorgaben unter Einschluss seiner pseudo-religiösen Heilserwartungen schritt.

Mit dieser Darstellungsweise ist die wenigstens partielle Aufgabe der herkömmlichen chronologischen Erzählform verbunden. Die innen- und außenpolitische Entwicklung wird - abgesehen von den noch zu besprechenden Ausnahmen - in groben Zügen abgehandelt. Vielversprechende Ansätze, das Leben "gewöhnlicher Deutscher" unter den Bedingungen der etablierten Diktatur während der Vorkriegsjahre zu schildern, bleiben zumeist stecken bzw. landen rasch bei den terroristischen Momenten der NS-Herrschaft, so wenn Burleigh umfänglich und detailliert beschreibt, mit welchen abgestuften Zwangsmitteln die Spendenbereitschaft der Bevölkerung für die diversen Sammlungen für das Winterhilfswerk u.a. erpresst wurde. So berechtigt und wichtig diese Hinweise sind: Man fragt sich doch, wie ihre starke Betonung zu der an vielen Stellen des Buches vermerkten Popularität des Regimes bis weit in den Krieg hinein passen soll. Die nachträgliche Entlarvung der vielbeschworenen "Volksgemeinschaft" hat viel für sich, sie sagt jedoch allein wenig bis nichts über die Wahrnehmung der Zeitgenossen aus, konnte diese doch ganz anders gestaltet sein und von der ex post rekonstruierten Realität durchaus abweichen. Mir ist keine Synthese der Geschichte des Dritten Reiches bekannt, die der Rolle und den Auswirkungen der NS-Propaganda so geringes Interesse entgegenbringt wie diese.

Dies hat ursächlich damit zu tun, dass Burleigh im Grunde gar keine Gesamtdarstellung der Zeit des Nationalsozialismus vorlegt, sondern in hohem Maße eigenständige Studien zu all jenen Komplexen, die man unter dem Überbegriff der Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen des Regimes zusammenfassen könnte. Zwangssterilisation, Euthanasie, Judenverfolgung und Kriegsverbrechen insbesondere im Osten werden in eigenen Kapiteln thematisiert, die unbestritten zum Besten gehören, was je hierüber geschrieben wurde. Aus eigenen früheren Arbeiten, etwa zur Rassenpolitik und zur Euthanasie, schöpfend, hat Burleigh eine bewundernswerte Fülle an Literatur ausgewertet und zu einem jeweils stimmigen Gesamtbild verschmolzen. Er verfolgt das Geschehen nicht nur, ja nicht einmal vorrangig in den Entscheidungszentralen, sondern geht den verheerenden Auswirkungen vor Ort nach. Zahlreiche sorgfältig ausgewählte und klug kommentierte Zitate aus amtlichen Quellen wie auch aus Schilderungen von Opfern und Tätern gestalten diese Abschnitte zu einer schaurig-ergreifenden Lektüre. Spiegelbildlich zum Leid der Betroffenen illustrieren sie mit erdrückender Eindringlichkeit die Kälte der Mörder, unter deren Motiven Burleigh in Ablehnung der bekannten Thesen Goldhagens niedere Motive wie schieres Gewinnstreben hoch veranschlagt. Überzeugend legt er dar, dass der Erklärungsansatz eines angeblich den Deutschen eigenen, eliminatorischen Antisemitismus vollkommen versagt, sobald das nicht minder rücksichtslose Vorgehen der Nationalsozialisten gegen alle nicht-jüdischen Opfergruppen in den Blick genommen wird. Goldhagens Modell stellt Burleigh sein eigenes Konzept einer pervertierten politischen Religion entgegen, die in Verfolgung ihrer überspannten Ziele jeden zu liquidieren entschlossen war, der der Umsetzung ihrer Heilsbotschaften vermeintlich oder wirklich im Wege stand. Somit entpuppt sich der fanatische Rassismus des NS-Regimes als weit mehr als der freilich in ihm enthaltene Antisemitismus als primäres Motiv.

Will man Burleighs Buch einordnen und bewerten, so wäre es als eine auf dem neuesten Forschungsstand stehende, kenntnisreich und engagiert geschriebene Darstellung der Gesamtheit der unter nationalsozialistischer Herrschaft begangenen Verbrechen zu charakterisieren. Ein besonderes Verdienst des Verfassers liegt nicht zuletzt darin, das Gesamtbild dieser Verbrechen und deren vielfältige, von allzu spezialisierten Einzelforschungen häufig übersehene Interdependenzen beleuchtet zu haben. Hätten Verlag und Autor diese Kapitel, die etwa zwei Drittel des Umfangs des Buches ausmachen, unter entsprechender Titelgebung veröffentlicht, so hätte man von einem neue Maßstäbe setzenden Standardwerk sprechen können. Da der Band sich jedoch als Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus in seiner Zeit deklariert, muss das Urteil differenzierter ausfallen. Gegen das Vorliegen einer solchen Synthese spricht vor allem, dass die insgesamt zehn Kapitel kein geschlossenes Ganzes ergeben. Abschnitt 9, der dem deutschen Widerstand gewidmet ist, wirkt seltsam isoliert und angeklebt, das letzte Kapitel "Inszenierte Apokalypse" handelt wiederum überwiegend von den Verbrechen der Endphase. Dem Band fehlt es an jenem Minimum an Ausgewogenheit der Themenwahl, die für eine Gesamtdarstellung der NS-Zeit unabdingbar ist. Der an Militärgeschichte interessierte Leser wird mit Bedauern feststellen, dass das Kriegsgeschehen im engeren Sinne des Wortes kaum präsent ist. So wird etwa das ereignisreiche Jahr zwischen dem Überfall auf Polen und der Luftschlacht um England auf gerade zwei Seiten abgehandelt (S. 467 ff.) und dabei nicht mehr mitgeteilt, als in jedem Schulbuch nachzulesen ist. Das der Kollaboration in den besetzten Gebieten gewidmete Kapitel beschäftigt sich weniger mit der deutschen Okkupationspolitik als den hiervon durchaus zu unterscheidenden Intentionen der Kollaborationskräfte, in erster Linie des Vichy-Regimes in Frankreich. Die Disproportionen sind passagenweise geradezu unbegreiflich, so wenn man beispielsweise über die alliierte Rüstung als eine der entscheidenden Ursachen für den Sieg der Anti-Hitler-Koalition weit mehr erfährt als über die deutsche (S. 848 ff.). Während zahlreiche Täter auf unteren Ebenen und ihre Aktivitäten breit beschrieben werden, bleibt die Spitzengarnitur des Regimes, ja selbst Hitler, merkwürdig blass. Es ist unmöglich, alle meines Erachtens wichtigen Aspekte aufzulisten, die Burleigh nicht behandelt; insbesondere Wirtschaft und Militärgeschichte fristen ein extremes Schattendasein.

So ist dem Band vorzuhalten, dass er nicht einmal ansatzweise zu leisten unternimmt, was er im Titel ankündigt. Positiv zu vermerken sind die sorgfältige Übersetzung, die klare und verständliche Sprache sowie die für einen Band dieses Umfangs verschwindend geringe Anzahl sachlicher Irrtümer und Verwechslungen, die nicht der Rede wert sind (richtig zu stellen ist lediglich die auf S. 643 erfolgte Verwechslung des von Partisanen getöteten Generalkommissars von Weißrussland, Erich Kube, mit dem Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch). Der - leider als Endnoten - gestaltete Anmerkungsapparat ermöglicht ein gezieltes Weiterlesen ebenso wie die kommentierte und nach Sachfragen gegliederte Auswahlbibliographie. Hingegen fehlen ein Gesamtliteraturverzeichnis und ein Stichwortregister. Die insgesamt vier Landkarten sind wenig übersichtlich - eine davon illustriert bezeichnenderweise die Judenverfolgung in Rumänien bzw. durch den rumänischen Staat, der auch im Textteil viel Platz eingeräumt wird (S. 720 ff.), ohne dass wieder einmal der Zusammenhang hinreichend deutlich wird. Burleigh behauptet an keiner Stelle, alles, was aus historiographischer Sicht über den Nationalsozialismus an der Macht zu sagen sei, erschöpfe sich in dessen Verbrechen. Es wäre daher ehrlicher und zweckmäßiger gewesen, eine diesem Teilbereich gewidmete Studie als solche zu deklarieren und ihr nicht das Etikett einer Gesamtdarstellung anzuhängen, die sie ihrer Anlage nach nicht sein kann.
 

 
 


Martin Moll ist Historiker in Graz
 


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