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Alexander Bahar und Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird. Edition q: Berlin 2001.

von Martin Moll

Bestenfalls eine Hand voll Personen ist heute noch im Stande, die Forschungs- und Quellenlage zu jenem Komplex halbwegs zu überblicken, der sich mit dem Begriff "Reichstagsbrand" verbindet, jenem zweifellos von Menschenhand gelegten Feuer, dem in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 große Teile des Berliner Reichstagsgebäudes zum Opfer fielen. Die Debatten über Täter, Anstifter und Nutznießer, die praktisch schon in der Brandnacht einsetzten und bis heute nicht abgeklungen sind, konzentrieren sich auf zwei große Themenfelder. Zum einen geht es um die Frage, ob der am Tatort verhaftete, Ende 1933 als Brandstifter zum Tode verurteilte und Anfang 1934 hingerichtete holländische Anarchosyndikalist Marinus van der Lubbe allein oder mit Helfershelfern gehandelt hatte, bejahendenfalls welchem politischen Lager diese zuzurechnen seien. Zum zweiten wird der Stellenwert des Ereignisses im Prozess der am 30. Januar 1933 begonnenen nationalsozialistischen "Machtergreifung" erörtert.

Hier gibt es, anders als bei der ersten Frage, wenigstens einen minimalen Konsens. Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass der Brand dem Hitler-Regime überaus gelegen kam und es ihm ermöglichte, unter dem Vorwand einer kommunistisch gesteuerten Brandstiftung, die als "Fanal" für einen allgemeinen Aufstand geplant gewesen sei, postwendend schärfste Unterdrückungsmaßnahmen gegen die KPD ins Werk zu setzen. Strittig ist nach wie vor, ob die braunen Machthaber die Gunst des Augenblicks ergriffen und - obgleich selbst vom Brand überrascht - sofort und rücksichtslos die mit ihm eröffneten Chancen nutzten oder ob sie den Anlass für den Ausnahmezustand selbst inszeniert hatten.

Bevor auf den hier vorzustellenden neuesten Beitrag zu dieser Kontroverse näher eingegangen werden kann, ist der bisherige Verlauf der Forschungsdiskussion in groben Strichen nachzuzeichnen.1 Dieser Diskurs füllt nämlich mittlerweile nicht nur ganze Bibliotheken, er weist auch einige Besonderheiten auf, deren Kenntnis unerlässlich ist. Ungewöhnlich war zunächst, dass die ersten Deutungen, wie auch Bahar und Kugel nachweisen, bald nach 1945 von unmittelbar am Geschehen Beteiligten aufgebracht und in die damalige Forschung übernommen wurden. Erstaunlich ist ferner, dass das Urteil von Fachwelt und Öffentlichkeit lange Zeit relativ geschlossen wirkte, dies allerdings bei abrupten Schwankungen von einem Extrem ins andere! So hatte man schon 1933 außerhalb Deutschlands an der Urheberschaft des NS-Regimes keine Zweifel. Diese Ansicht setzte sich nach dem Ende des "Dritten Reiches" auch in Deutschland durch, und zwar in beiden Staaten, bis sie in der BRD um 1960 von der These der Alleintäterschaft van der Lubbes abgelöst wurde. 

Diese von dem "Amateurhistoriker" Fritz Tobias entwickelte Theorie2 war im Prinzip nicht neu; sie trat aber nun mit wissenschaftlichem Anspruch, gestützt auf Quellen, auf den Plan, fand Unterstützung in der Fachwelt3 und bewirkte so einen Paradigmenwechsel. Dieser gelang freilich nie vollständig. Ein "Internationales Komitee Luxemburg" um den Schweizer Historiker Walther Hofer leistete zähen, wenn auch anscheinend schwächer werdenden Widerstand.4 1986 schien es durch einen von der mittlerweile erheblich ausgeweiteten Tobias-Gemeinde vorgelegten Sammelband endgültig gelungen, die Hofer-Gruppe ins Abseits zu drängen.5

Sieht man einmal davon ab, dass es dem Außenseiter Tobias, der nie Geschichte studiert hatte, gelungen war, große Teile der "Zunft" hinter sich zu scharen, so könnte nach dem bisher Gesagten der Eindruck entstehen, es handle sich um einen normalen wissenschaftlichen Disput, der schlussendlich mit der Dominanz einer Richtung seinen weitgehenden Abschluss gefunden habe. Doch an dieser Kontroverse war so gut wie nichts normal. Da ist zunächst die Leidenschaft, die dem Streit sein Gepräge gab. Sachliche Argumente traten immer mehr hinter Polemiken und persönlichen Diffamierungen bis hin zu gegenseitigen Fälschungsvorwürfen zurück. Zahlreiche Prozesse bezweckten Widerruf und Unterlassung von Behauptungen der Gegenseite.

Mit welchen Methoden auf diesem Feld gearbeitet wurde, ist unlängst erneut bestätigt geworden. Tobias-Mitstreiter Hans Mommsen, damals beim Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) tätig, setzte 1962 namens seines Dienstgebers alle Hebel in Bewegung, um die Publikation eines Tobias-kritischen Manuskripts unmöglich zu machen, was ihm auch gelang. Die dabei von Mommsen vorgeschlagenen Methoden (Druck auf den Dienstgeber des Verfassers, juristische Bluffs, Materialentzug) bezeichnete die Leitung des IfZ unlängst als "unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel."6 Wie sehr Mommsen in dieser Debatte inzwischen ins Abseits geraten ist, mag man auch daraus ersehen, dass die "in Verbindung" mit ihm vom IfZ herausgegebenen "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" in einer ihrer letzten Nummern einen Artikel abdruckten, der nur als schallende Ohrfeige für Mommsen und die seinerzeitige Institutsleitung bezeichnet werden kann.7 Mommsen vermied in seiner wutschnaubenden, aber inhaltlich schwachen Replik auf das hier vorzustellende Buch selbst die leiseste Erwiderung auf den im Raum stehenden Vorwurf der Unterdrückung unliebsamer Auffassungen.8

Abgesehen von den letzten Entwicklungen kann man weitere Gustostückerln über den Stil dieser zum Glaubenskrieg mutierten Kontroverse im Schlusskapitel von Bahar und Kugel nachlesen, welches der Historiographie zum Reichstagsbrand gewidmet ist. So sehr einem die Belegstellen die Haare zu Berge stehen lassen, so sind doch die Autoren selbst nicht ganz frei von persönlichen Untergriffen (799: "... der alkoholisiert wirkende Mommsen ..."). Nicht der sachlichen Auseinandersetzung, sondern der personenbezogenen Anschwärzung dient ferner ein eigener Abschnitt "Wer ist Fritz Tobias?" (778 ff.), in dem u.a. dessen angebliche Zugehörigkeit zur Geheimen Feldpolizei in den Raum gestellt wird. Zu kurz kommt auch, dass das Hofer-Komitee bei der Anwendung unlauterer Mittel ebenfalls nie zimperlich vorging. Zu Recht wird allerdings kritisiert, dass Tobias sich nach seinen ersten Erfolgen Anfang der 60er Jahre immer mehr in die Rolle eines Papstes der Reichstagsbrandforschung hineinsteigerte, jeden Kritiker unbarmherzig mundtot zu machen trachtete und sich vor allem weigerte, seine Quellen offen zu legen. 

Aufschlussreich sind die Nachweise für das unermüdliche Engagement, das der "Spiegel" und sein Herausgeber Rudolf Augstein seit einem halben Jahrhundert als Sprachrohr der Alleintäterthese an den Tag legen.9 Noch spannender sind die Kehrtwendungen der "Zeit" und insbesondere Mommsens, der 1962 das Tobias-Buch wegen seiner handwerklichen Mängel auf das Schärfste kritisiert hatte (796 f.). Als Erklärung für diese Wandlung vom Saulus zum Paulus bietet sich die Vermutung an, dass Mommsen in den 60er Jahren seine "Chaostheorie" des NS-Regimes und dessen "schwachen" Diktators zu entwickeln begann. Eine Deutung des Brandes à la Tobias passte in dieses Szenario, die Gegenthese der zielstrebigen Herbeiführung und Ausnutzung des Feuers durch die Nationalsozialisten hingegen nicht.

Vor einigen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass die meisten Zeithistoriker dieses endlosen, mit abstoßenden Methoden geführten und offenkundig fruchtlosen Streites müde waren. 1987 wurde gar die Frage gestellt, was eigentlich mit den deutschen Historikern los sei, wenn nicht einmal die im Raum stehenden massiven Fälschungsvorwürfe nennenswerte Reaktionen auslösten.10 Die Angehörigen der Zunft mieden eine Beteiligung an der Kontroverse umso mehr, als diese längst auf andere Disziplinen übergegriffen hatte und die Historiker angesichts der kriminalistischen, chemischen, thermodynamischen etc. Fachgutachten ratlos zurückließ. Wie stark, nebenbei bemerkt, dieser Streit die Naturwissenschaften einbezieht, zeigt Bahars und Kugels Forderung, den Leichnam van der Lubbes exhumieren und gerichtsmedizinisch auf Spuren verabreichter Drogen untersuchen zu lassen (21). 

Das Interesse der Fachwelt wurde erst wieder geweckt, als Anfang der 90er Jahre in den Archiven der ehemaligen DDR umfangreiche Aktenbestände auftauchten, die zuvor als verschollen galten. In erster Linie handelt es sich hierbei um die (weitgehend vollständigen) Akten der polizeilichen und gerichtlichen Voruntersuchung sowie die kompletten Niederschriften der 57 Verhandlungstage jenes Prozesses, der vor dem Reichsgericht gegen "van der Lubbe und Genossen" geführt worden war. Tobias hatte seinerzeit nur einen Bruchteil dieser Protokolle verwenden können. Aufgefunden wurden schließlich mehrere Sachverständigengutachten, die das Gericht zur Klärung von Brandentstehung und -verlauf in Auftrag gegeben hatte.

Den Ausgangspunkt des Buches bildet die schon vom Reichsgericht und den Sachverständigen vertretene Auffassung, es sei vollkommen ausgeschlossen, dass der ortsunkundige, stark sehbehinderte van der Lubbe innerhalb weniger Minuten mit den ihm verfügbaren primitivsten Mitteln ein derart großes Gebäude wie den Reichstag allein habe in Brand stecken können. Die Gutachter stimmten darin überein, dass der Plenarsaal mit selbstentzündlichen oder leicht brennbaren Materialien vorpräpariert gewesen sein musste. Die Schilderungen des Holländers waren zudem ungenau, widersprüchlich, unglaubwürdig und mit den örtlichen Gegebenheiten vielfach nicht in Einklang zu bringen. 

In einem ersten langen Kapitel wird daher der Weg van der Lubbes durch das Gebäude anhand der Ermittlungsakten rekonstruiert. Dabei begehen die Autoren jedoch den Fehler, die Zeitangaben der Zeugen bis auf die Minute genau wörtlich zu nehmen und selbst aus kleinsten Diskrepanzen weitreichende Schlüsse zu ziehen. Für den Rezensenten liegt hingegen auf der Hand, dass die ersten am Brandort eintreffenden Personen verständlicherweise höchst aufgeregt und mit der Suche nach den Brandstiftern, der Löschung des Feuers etc. vollauf beschäftigt waren und keine Muße hatten, ihre Beobachtungen sekundengenau zu protokollieren. Dieser Einwand ändert aber nichts an der richtigen Erkenntnis, dass der von dem Holländer behauptete Hergang so nicht stimmen konnte und es zumindest mehrere Mittäter gegeben haben musste.

Dies war, wie dargelegt, die 1933 vorherrschende Sicht, nur vermutete man die Helfer in jeweils entgegengesetzten politischen Lagern. Seltsamerweise widmen sich die Verfasser in weiterer Folge dem umständlichen Nachweis, dass es nicht die Kommunisten waren, schon gar nicht die mitangeklagten Bulgaren Dimitroff, Popoff und Taneff sowie der Fraktionschef der KPD im Reichstag, Ernst Torgler. Mit der Widerlegung der seinerzeitigen Behauptung der Hitler-Regierung, die Kommunisten seien für den Brand verantwortlich, tragen Bahar und Kugel freilich Eulen nach Athen. Sicher, das Reichsgericht nahm in seinem Urteil die Existenz kommunistischer Hintermänner an, sprach jedoch die vier Mitangeklagten van der Lubbes frei. Folgt man den Verfassern, so war der Freispruch Torglers von Haus aus geplant, ja mit dessen Verteidiger paktiert. 

In der Tat legen die Autoren einige diese Theorie stützende Dokumente vor; sie geben jedoch keinen Hinweis auf die Motive, aus denen heraus das NS-Regime freiwillig die Blamage eines Freispruchs für den wortreich der Mitverantwortung bezichtigten Torgler, von den drei Bulgaren ganz zu schweigen, auf sich genommen haben sollte. Es müssen schon sehr überzeugende Motive gewesen sein, denn die Desavouierung der NS-Propaganda durch das Urteil lag vor aller Augen. Rätselhaft bleibt dem Rezensenten, warum sich Bahar und Kugel derart auf die Person Torglers einschießen und des Langen und Breiten dessen (bereits bekannte) Kollaboration mit dem Propagandaministerium in späteren Jahren abhandeln, die mit dem Reichstagsbrand in keinem erkennbaren Zusammenhang steht.

Durchaus lesenswert sind die umfänglichen Kapitel über den Prozessverlauf sowie - erst nach der Schilderung der Hinrichtung eingeschoben - den Lebenslauf van der Lubbes. Erst in weiterer Folge kommen Bahar und Kugel eigentlich zur Sache: Wer waren die wirklichen Brandstifter, wenn es der Holländer nicht oder nicht allein war? Rechnet man das historiographische Schlusskapitel sowie den erwähnten Exkurs über Torgler ab, so bleibt für die zentrale Frage nur ungefähr ein Drittel des Umfangs übrig.

Wegen der Vielzahl an Spuren und - teilweise untereinander nicht verbundener - Theorien kann hier nur die Grundtendenz zusammengefasst werden: Göring und Goebbels hatten den Brandplan ausgeheckt (möglicherweise schon geraume Zeit vor der "Machtergreifung") und dessen Ausführung dem Berliner SA-Chef Ernst übertragen, der hierfür ein kleines, maximal 10 Mann starkes Spezialkommando der SA mit einigen pyrotechnischen Experten zusammenstellte. Das entzündliche Material wurde durch einen Verbindungsgang zwischen dem Reichstag und dem Reichstagspräsidentenpalais, in dem Göring residierte und Rückendeckung gab, in den Plenarsaal geschafft. Auf demselben Weg verschwanden die Täter unbemerkt. Van der Lubbe hatte vermutlich während seines rund zehntägigen Berlin-Aufenthalts vor seiner Verhaftung Kontakt zu Nationalsozialisten, die ihn - ohne sich zu erkennen zu geben - zu seiner Tat aufstachelten. Eventuell hypnotisiert durch den bekannten (noch im März 1933 ermordeten) Hellseher Hanussen wurde er in den Reichstag geschafft, wo er einige kleinere, harmlose Brände legen durfte, während zeitgleich der präparierte Plenarsaal durch selbstentzündliche Materialien aufflammte. Mit van der Lubbes Festnahme wurde ein Sündenbock gefunden; während des Prozesses stellte man ihn mit Drogen ruhig. Lästige Mitwisser wurden in den folgenden Jahren zielstrebig liquidiert.

Die vorgelegten Indizien - einen unwiderlegbaren Beweis behaupten Bahar und Kugel nicht gefunden zu haben - stimmen in ihrer Fülle nachdenklich. Zugleich verwirren sie den unvoreingenommenen Betrachter, da sie in einer das Verständnis nicht gerade erleichternden Reihenfolge und häufig ohne explizite Bezüge zueinander präsentiert werden. Was man besonders vermisst, ist eine Bilanz, welche die Masse des Materials ordnen, gewichten und zu einer klar ausformulierten Gedankenkette zusammenfassen würde. Dies scheinen auch die beiden Verfasser letztlich gespürt zu haben, weil sie anstatt eines Resümees den ungewöhnlichen Weg beschreiten, ihre Sichtweise auf einer einzigen, dem Buch vorangestellten Textseite zu präsentieren. Damit ist dem Leser wenig geholfen. 

Dabei ist durchaus anzuerkennen, dass die Autoren ein schier unglaubliches Quellenmaterial zusammengetragen haben und selbst dem kleinsten Hinweis nachgegangen sind. In ihrem Eifer übersehen sie dabei manchmal, dass die eine oder andere Spur in einer Sackgasse endet bzw. vom Gegenstand so weit wegführt, dass der Konnex kaum mehr erkennbar ist. So viel Interessantes hier auch geboten wird, so erschlägt die Anhäufung nicht weiter führender Details den Leser immer aufs Neue. Für den Forscherfleiß der Verfasser und ihre Akribie beim Aufgreifen winzigster Spuren kann man nur Bewunderung aufbringen. Die Gabe der stringenten, verständlichen Präsentation ihrer Resultate ist ihnen leider nicht im selben Umfang gegeben.

Natürlich kann es keinem Zweifel unterliegen, dass diese Problematik nicht zum mindesten der Komplexität des Gegenstandes und der riesigen Masse des verfügbaren Quellenbestandes geschuldet ist. Mommsens Gegenargument "Wie häufig in der Geschichtswissenschaft ist die einfachste Problemlösung auch die wahrscheinlichste" teilt der Rezensent ausdrücklich nicht.11 Man stellt sich jedoch die bange Frage, wie die Forschung mit dem hier ausgebreiteten Material umgehen und weiter verfahren, sprich: recherchieren soll, was Bahar und Kugel mehrfach einfordern. 

Zu erwarten ist (leider), dass sich die Debatte in eine Unzahl von Einzelgefechten aufsplittern wird. Vermutlich werden die Vertreter der Tobias-Schule jede einzelne Quelle, jedes einzelne Indiz und die an ihnen aufgehängten Schlussfolgerungen unter Beschuss nehmen, was auch durchaus möglich ist. Man muss kein Tobias-Adept sein, um sich an vielen Stellen des Buches zu denken, dass die Interpretation auch anders lauten, dass es auch eine simplere Erklärung geben könnte. Die Strategie der Verfasser beruht eben, wie schon gesagt, nicht auf der Überzeugungskraft weniger Schlüsseldokumente, sondern auf einer endlosen Indizienkette und einem ausgefeilten Hypothesengebäude, das mit seiner Masse, nicht durch seine Einzelbestandteile wirken soll. Dabei fällt freilich auf, dass die Fundamente dieses Gebäudes nicht an allen Stellen gleich stark sind. Dicht und überzeugend belegt wirken die ersten Teile, die mit der Exekution van der Lubbes enden. Sobald es um die wirklichen Täter geht, werden die Quellen spärlicher und vor allem auch fragwürdiger, wie Bahar und Kugel ehrlicherweise selbst einräumen. Mitunter ist kaum erkennbar, welche Zeugenaussagen auf eigener, unmittelbarer Wahrnehmung beruhen und welche auf Hörensagen.

Zwei Besonderheiten der Beweisführung dieses Buches sind noch anzumerken. Vermieden wird eine Argumentation, die von den offensichtlichen Nutznießern des Brandes ausgeht und von dieser Warte aus auf die Urheber rückschließt. Auf die Vorgeschichte der am 28. Februar 1933 erlassenen Reichstagsbrandverordnung geht die Arbeit nur insoweit ein, als sie die z.T. frappierende Übereinstimmung mit älteren Vorbildern als Argument gegen die Spontaneität des Handelns der Hitler-Regierung ins Treffen führt.12 Gleiches gilt für die unmittelbar vor dem Brand getroffenen Maßnahmen zur Einleitung von Massenverhaftungen kommunistischer Funktionäre.

Die zweite Eigentümlichkeit der Beweiskette betrifft den Umstand, dass sich diese sehr stark auf die gewaltsame Beseitigung all jener Mitwisser stützt, die den Drahtziehern um Göring und Goebbels hätten gefährlich werden können - und sei es nur wegen ihrer notorischen Geschwätzigkeit. Mehrere Abschnitte behandeln mysteriöse Todesfälle und auch offenkundige Morde; der Fall Hanussen wurde bereits erwähnt. Die Überzeugungskraft dieser Passagen ist höchst unterschiedlich. Wie so oft in diesem Buch wäre weniger mehr gewesen, da die Autoren den Vorwurf des Spekulierens vermieden hätten. So kann man ihnen beispielsweise absolut nicht mehr folgen, wenn sie noch den Tod des 1957 (!) bei einem Jagdunfall ums Leben gekommenen ersten Chefs der preußischen Gestapo, Rudolf Diels, mit dem Reichstagsbrand in Verbindung zu bringen suchen (742 ff.).

Solche Entgleisungen bleiben jedoch die Ausnahme. Sie mindern die Bedeutung dieses Buches nur am Rande. In Summe kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Reichstagsbrandforschung einen riesigen Schritt nach vorne gemacht hat. Dafür bürgt allein die schier unglaubliche Fülle neuer Quellen, die von den Autoren erschlossen, zusammengetragen und ausgewertet wurde. Man staunt immer wieder, was sich mit detektivischem Gespür und Hartnäckigkeit heute noch ermitteln lässt. Man mag hinsichtlich einzelner Argumentationsstränge anderer Meinung sein, ja sogar damit rechnen, dass manche Schlussfolgerungen einer kritischen Nachprüfung nicht standhalten werden. Ob damit das gesamte Gebäude, die auf eine direkte NS-Täterschaft abzielende Kernthese, zum Einsturz kommen wird, bleibt abzuwarten und erscheint dem Rezensenten als unwahrscheinlich.

Die Alleintäterthese Tobias' und seiner Jünger muss als nachhaltig erschüttert gelten. Ihre Verfechter bleiben diskreditiert zurück, da ihnen Bahar und Kugel anhand unzähliger Beispiele haarsträubende Manipulationen, Verdrehungen und sinnentstellende Weglassungen bei den von ihnen zitierten Quellen nachweisen können. Ein neuerlicher Paradigmenwechsel zeichnete sich schon ab, als 1999 die renommierte "Historische Zeitschrift" eine Vorveröffentlichung zu diesem Buch abdruckte.13 Darin hatten die Autoren noch dafür plädiert, die Lösung des Rätsels offen zu halten; dies sei das Mindeste, für das man sorgen müsse, auch wenn es vielleicht nie endgültig zu beantworten sei.14 An diesem Urteil ändert sich auch durch die nun vorliegenden mehr als 800 Textseiten des Buches nichts Grundlegendes. Deutlich wird immerhin, dass und in welche Richtung beim heutigen Forschungsstand weitergearbeitet werden muss. Der zeitweilig entschieden geglaubte Streit ist keineswegs zu Ende, sondern geht in eine neue Runde. Die mehr als 40 Jahre alten Publikationen des Amateurs Tobias, mögen seine Anhänger auch heftige Rückzugsgefechte liefern, kann man ruhigen Gewissens als überholt bezeichnen.15


1 Immer noch lesenswert, weil von einem am Streit nicht Beteiligten verfasst, Ulrich von Hehl: Die Kontroverse um den Reichstagsbrand, in: VJZG 36, 1988, S. 259-280.
2 Zuerst in einer Serie im "Spiegel" Ende 1959/Anfang 1960, bald darauf in Buchform. Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962.
3 Am wirkungsvollsten war die Schützenhilfe Hans Mommsens in dessen Beitrag: Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen, in: VJZG 12, 1964, S. 351-413.
4 Vgl. insbesondere die von Hofer und anderen in mehreren Auflagen und Bänden herausgegebene Dokumentation "Der Reichstagsbrand" (erstmals 1972).
5 Uwe Backes, Karl-Heinz Janßen, Eckhard Jesse, Henning Köhler, Hans Mommsen und Fritz Tobias: Reichstagsbrand - Aufklärung einer historischen Legende, (erstmals) München 1986. Den Eindruck einer Niederlage der Hofer-Gruppe vermittelt auch der abgewogene Forschungsbericht von Hehl (wie Anm. 1).
6(Notiz ohne Unterschrift, aber deklariert als Stellungnahme der Institutsleitung): Zur Kontroverse über den Reichstagsbrand, in: VJZG 49, 2001, S. 555.
7 Hersch Fischler und Gerhard Brack: Zur Kontroverse über den Reichstagsbrand. Stellungnahme zu der in der Julinummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte publizierten Notiz, in: VJZG 50, 2002, S. 329-334. Ebenda S. 334 eine Nachbemerkung der Institutsleitung, wonach alle relevanten Akten frei zugänglich seien.
8 Hans Mommsen: Nichts Neues in der Reichstagsbrandkontroverse. Anmerkungen zu einer Donquichotterie, in: ZfG 49, 2001, S. 352-357.
9Vgl. zuletzt, als - vergleichsweise (!) faire - Auseinandersetzung mit dem Buch von Bahar und Kugel, den Artikel "Flammendes Fanal", in: Der Spiegel Nr. 15/2001, S. 38-58.
10 Peter Haungs: Was ist mit den deutschen Historikern los? Oder: Ist Quellen-Fälschung ein Kavaliersdelikt? Zur Kontroverse um den Reichstagsbrand, in: GuG 13, 1987, S. 535-541.
11 Mommsen, Nichts Neues (wie Anm. 8), S. 357.
12 Neuere Forschungen bestätigen diese Einschätzung. Vgl. Thomas Raithel und Irene Strenge: Die Reichstagsbrandverordnung. Grundlegung der Diktatur mit den Instrumenten des Weimarer Ausnahmezustands, in: VJZG 48, 2000, S. 413-460.
13 Jürgen Schmädeke, Alexander Bahar und Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand im neuen Licht, in: HZ 269, 1999, S. 603-651.
14 Ebenda S. 650.
15 Die Diskussion wird im Internet im "Reichstagsbrandforum" geführt: http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand/ . Auf dieser wohltuend sachlichen (weil objektiv moderierten) Seite finden sich neben Diskussionsbeiträgen der wichtigsten Protagonisten auch einige Rezensionen des Buches von Bahar und Kugel aus deutschen Tageszeitungen. 
 


Martin Moll ist Historiker in Graz


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