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Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München /Berlin, Bd. 67), R. Oldenbourg-Verlag, München 2006, 312 Seiten.

von Rolf Steininger


In der Nacht zum 13. August 1961, einem Sonntag, begann jene Aktion, die zu den einschneidendsten Ereignissen der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte gehört: SED-„Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, Volkspolizei und Einheiten der Nationalen Volksarmee – mit strategischer Rückendeckung der Roten Armee – riegelten die 110 km lange Außengrenze zwischen West-Berlin und der DDR sowie die 45 km lange Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin mit Stacheldraht ab. In den folgenden Wochen und Monaten wurde aus dem Stacheldrahtverhau eine Mauer – Symbol für den Kalten Krieg und den Ost-West-Konflikt.

Der Mauerbau war der Höhepunkt einer Krise, die der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow im Herbst 1958 ausgelöst hatte und die erst 1963 endete. Sie gehört zu den gefährlichsten Zuspitzungen des Kalten Krieges und war nach Einschätzung des damaligen stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Nitze gefährlicher als die Kuba-Krise 1962: wegen der Gefahr von Fehleinschätzungen, insbesondere auf sowjetischer, aber auch auf westlicher Seite.

Der Mauerbau war denn auch so etwas wie das Sujet célèbre der Zeithistoriker, wobei der Zugang zu den Quellen ein besonderes Problem war. Im Lauf der Jahrzehnte standen allerdings auf westlicher Seite immer mehr Akten zur Verfügung, sodass wir zum 40-jährigen „Jubiläum“ des Mauerbaus ziemlich genau über die Politik der Westmächte Auskunft geben konnten.

Mit Blick auf die Sowjetunion und die DDR gab es allerdings nach wir vor mehr Fragen als Antworten. Weshalb löste Chruschtschow die Krise aus? Warum in Form eines Ultimatums? Welche Rolle spielte die SED-Führung, allen voran Walter Ulbricht? Wann wurde die Entscheidung für den Bau der Mauer getroffen, und wer traf sie? War der Mauerbau der Höhepunkt der Krise? Und bei der Konfrontation am Checkpoint Charlie im Oktober 1961: Geschah dies mit Zustimmung von US-Präsident Kennedy oder war dies eine einsame Entscheidung seines Repräsentanten in West-Berlin, General Lucius D. Clay? Und was bewegte Chruschtschow beim Rückzug der sowjetischen Panzer? Bei allen diesen Fragen waren wir größtenteils auf Spekulationen angewiesen, trotz einiger neuer Dokumente aus der ehemaligen DDR.

Einer der besten Kenner der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945, Gerhard Wettig, ehemals Forschungsbereichsleiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und Chefredakteur der Zeitschrift „Außenpolitik“, gibt in seiner neuen Arbeit Antworten auf einige dieser Fragen. Wettig hat sowjetische Dokumente auswerten können, in erster Linie Bestände des Archivs des russischen Außenministeriums und des Russischen Staatsarchivs für Neueste Geschichte, des ehemaligen Archivs des ZK der KPdSU. Ergänzend dazu hat er Material aus Archiven der ehemaligen DDR benutzt. Keinen Zugang hatte er zum Präsidentenarchiv in Moskau erhalten, dem zweifellos wichtigsten Archiv in der russischen Hauptstadt, in dem selbst russische Forscher nur in seltenen Ausnahmen arbeiten können.

Welche Antworten gibt Wettig? Die Berlinkrise war demnach Chruschtschows einsame Entscheidung, nicht einmal mit dem sowjetischen Außenministerium abgestimmt. Die Krise macht deutlich, dass die DDR zwar Alliierte der Sowjetunion war, aber nicht der von der amerikanischen Historikerin Hope Harrison behauptete „Superalliierte“. Chruschtschow bestimmte zu jedem Zeitpunkt die Politik.

Wann wurde die Entscheidung zum Mauerbau getroffen? Hier gibt es nach wie vor unterschiedliche Antworten. Nach Wettig im Juli 1961, während ich eher der Meinung des sowjetischen Historikers A. A. Foresenko zuneige – der Zugang zum Präsidentenarchiv hatte –, wonach Chruschtschow für die Schließung der Sektorengrenze erst nach Kennedys berühmter Rede vom 25. Juli 1961 entschied – als Reaktion auf diese Rede.

Eine weitere Antwort Wettigs wird sicherlich zu weiteren Diskussionen führen. Er vertritt nämlich die Auffassung, dass aus der Sicht Chruschtschows die Mauer nur als Provisorium gedacht gewesen sei, dass sich hinter diesem Provisorium die DDR so weit ökonomisch stabilisieren sollte, um einer möglichen westlichen Wirtschaftsblockade standhalten zu können. Von daher auch zunächst nur Stacheldrahtverhau. Oberstes Ziel Chruschtschows sei es gewesen, in jedem Fall den Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Deswegen auch sei die Krise nach dem 13. August verschärft fortgeführt worden.

Ulbricht drängte in der Tat auf diesen Friedensvertrag und auf weiter gehende Maßnahmen zur Eigenstaatlichkeit der DDR. Er forderte noch während des XXII. Parteitags der KPdSU im Oktober 1961 von Chruschtschow, dieser solle die Rechte der Westmächte einschränken. Im Frühjahr 1962 kam die endgültige Antwort Chruschtschows. Er teilte Ulbricht mit: „Die Mauer war das Maximum dessen, was möglich war.“

Über die gefährlichste Krise jener Wochen, nämlich die Konfrontation am Checkpoint Charlie im Oktober 1961, erfahren wir leider nicht viel Neues. Dass Clay seine Aktion allerdings mit Zustimmung Kennedys durchgeführt habe, ist für mich neu und müsste wohl auch hinterfragt werden. Neben neuen Erkenntnissen bietet dieses Buch eine Fülle von Details, die insgesamt einen interessanten neuen Blick in den Ablauf jener Krise ermöglichen.


Oldenbourg Verlag

Rolf Steininger ist ordentlicher Universitätsprofessor und seit 1984 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.

Publikationsliste

Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

E-Mail: Rolf.steininger@uibk.ac.at



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