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Romuald Karmakar, Das Himmler-Projekt, D 2000, DVD (erschienen 2002 bei absolut MEDIEN, Dokumente 719) bzw. ders., Warheads, D/F 1992, VHS (erschienen 2002 bei absolut MEDIEN, Dokumente 437).

von Gregor Stadlober


Am 4.Oktober 1943 hält Heinrich Himmler in Posen vor 92 SS-Generälen eine Geheimrede. Die Rede dauert dreieinhalb Stunden. Himmler skizziert darin den bisherigen Kriegsverlauf, diskutiert die Probleme der inneren Sicherheit und schwört seine Generäle auf die Tugenden der SS ein. Dazu entwirft er ein Szenario für die nächsten 6.000 Jahre Großgermanien, in dem er die Beherrschung des Kontinents, die "Bevölkerungspolitik" und die zentrale Rolle seines SS-Ordens darin beschreibt. Die Rede ist berühmt, weil einige Passagen oft zitiert werden. In der berüchtigtsten sagt Himmler, dass alle Anwesenden Massenmorde gesehen haben und dabei anständig geblieben sind - das habe sie hart gemacht.

Die Rede wurde auf Wachsplatten aufgezeichnet, mit der Absicht, sie der Nachwelt zu erhalten, aber auch, um sie den nicht anwesenden SS-Generälen zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wurde sie transkribiert, korrigiert und in einer autorisierten Druckfassung versandt. Die Generäle mussten später mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie die Rede gelesen hatten. (Es ist ein groteskes Detail der Geschichte, dass diese Version jetzt als Quelle benutzt wird, weil sie es ist, die im Anhang der Nürnberger Protokolle abgedruckt ist.)

In "Das Himmler-Projekt" (D 2000) lässt der deutsche Filmemacher Romuald Karmakar nun den Schauspieler Manfred Zapatka - in Straßenkleidung und sachlichem Tonfall - den gesamten Text der eigens rekonstruierten Originalrede vorlesen. Der Film wurde an einem Tag gedreht. Er ist kaum geschnitten. Man sieht fast die ganze Zeit über Zapatka in Nah- und Großaufnahmen vor neutralem Hintergrund an einem Lesepult stehen. Bis auf wenige Ausnahmen ist er dabei in leichter Untersicht von vorn gefilmt. Er liest den Text ab und blickt zwischendurch knapp an der Kamera vorbei in ein imaginäres Publikum. Die Reaktionen des historischen Publikums werden als Untertitel eingeblendet. Nicht nur darin erinnert der Film an ein Parlamentsprotokoll.

Weder spielt Zapatka Himmler noch verfremdet er den Text. Er eignet sich den Text auf eine befremdlich unvoreingenommene Art an. Karmakar will die Aufmerksamkeit der Zuschauer drei Stunden (das Original dauert dreieinhalb Stunden - 30 Minuten Rhetorik?) an diesen Mann binden, dafür muss er auch "Suggestionsphasen schaffen", sagt der Regisseur im Interview mit Alexander Kluge (der übrigens ähnlich arbeitet, etwa in "Die Chronik der Gefühle"). Alexander Horvath (epd Film, 10/2001) beschreibt die Zwiespältigkeit dieser Methode anhand von Karmakars bekanntestem Film "Der Totmacher". Während Hauptdarsteller Götz George und die Kritik von Georges virtuoser Schauspielleistung eingenommen waren, ist für Horvath die Methode "nicht jene des Schauspielers. Es ist die Methode der wachsamen Lektüre, Auswahl, Auslotung, Bearbeitung und szenischen Konstruktion bestehender Textspuren, realer ‚Sprechrollen' und historischen Materials zum Zwecke ihrer ‚Erfüllung mit Jetztzeit'. George wollte statt dessen, so kann man vermuten, gegen den Geschichtsbegriff von Walter Benjamin jenen des Historismus retten: der blendende Einfühlungshistoriker, der ein angeblich homogen Vergangenes ebenso rund wieder herbeimimt."

Was im Interview mit Kluge (das als Extra-Feature auf der DVD ist) leider nicht zur Sprache kommt, ist die Montage. So kann man nur vermuten: Der Schnitt ist nur dazu da, um die Kontinuität der Rede herzustellen. Es könnte also gleichgültig sein, ob Zapatka gerade in einer Naheinstellung oder in einer Großaufnahme gezeigt wird. Es könnte aber auch eine minimalistische Spannungsdramaturgie dahinter stecken. Jedenfalls gewinnen die Gestaltungsmittel analog zu ihrer Reduktion an Bedeutung. Es bleibt unklar, wie sehr das ‚Spiel' Zapatkas mit der Kamera koordiniert ist: Ob es die beabsichtigten Suggestionsphasen sind, in denen er fast bzw. manchmal auch direkt in die Kamera blickt. Oder ob die wenigen Einstellungen, in denen er im Profil zu sehen ist, die Schockwirkung besonders drastischer Passagen verstärken sollen: Die Profil-Untersicht-Aufnahmen sind die einzigen, deren Kadrierung deutlich an Originalbilder aus dem "Dritten Reich" erinnert.

Karmakar ist ein Spezialist für Außenseiter. Nicht die Sympathischen, Ausgebeuteten, Unterprivilegierten, die unser Mitleid verdienen, sondern die (zumindest in ihrem Tun) abscheulichen Gestalten oder Bestien: Söldner ("Warheads"), Serienmörder ("Der Totmacher"), Sextouristen ("Manila") holt er aus ihrer Isolation und lässt sie reden. Wobei "Karmakars Werk nicht - wie manchmal behauptet wird - ‚martialisch' oder ungebrochen ‚männermythisch' zur Sache geht, sondern Niederlagenforschung und Fehlleistungsanalyse betreibt" (A. Horvath). Karmakar dockt dieses "ganz Andere" wieder an die Gesellschaft an, indem er es menschlich macht. Dadurch sorgt er für Unklarheiten, die äußerst unangenehm berühren: Wenn seine Filme dann als abstoßend bezeichnet werden, so ist das eine Wunsch-/Schutzbehauptung.

Das Beispiel "Himmler Projekt" zeigt die Fadenscheinigkeit des häufig gegen Karmakar geäußerten Vorwurfs, man dürfe solche Leute nicht unkommentiert zu Wort kommen lassen. Indem er die Rede vom Kommentar befreit, nimmt er dem Zuschauer die schützende Distanz; genau dadurch bringt er das Vergangene in einen wirklichen Zusammenhang mit der Gegenwart. Die Quelle steht ohne Patina da. Sie ist nicht länger ein grauenhaftes Ding aus einer anderen Welt. Die langweiligen Passagen vor und die esoterischen Passagen nach den immer zitierten Furchtbarkeiten relativieren diese zwar nicht, machen einem aber klar, dass man sich als Zuhörer an diese Sprache gewöhnen kann. Keine Gnade der späten Geburt!

Man verroht in diesen drei Stunden, weil kein grotesk gestikulierender Hampelmann sich als absolut Böses beweist; weil die Rede nicht in Schwarzweiß und historischer Tonqualität zum fernen Echo von etwas Unfassbarem stilisiert wird und weil nicht unsere pfingstig dreinschauenden Großmütter oder andere Sensationen zwischengeschnitten sind. (In der dritten Stunde hat man auch Zeit, sich zu fragen, was an den Fantasien von einer ewigen Ordensordnung eigentlich wahnsinniger sein soll als am Eingottglauben.)

Karmakar und Zapatka erfüllen das historische Material mit Jetztzeit. Vor uns stehen dadurch Sprache und Menschenbild des "Dritten Reichs" in einer entschlackten Version. Und das ist nicht so weit von uns entfernt, wie wir es gerne hätten. Was würde z.B. passieren, wenn man die nicht explizit mörderischen Passagen der Rede mit den zynischen Euphemismen der Managementsprache versetzen würde - quasi: "Human Resource Management" statt "Helotisierung"?

Kontinuität darzustellen, war jedenfalls eine Hauptintention von Karmakar. Gegenüber Alexander Kluge bezeichnet er "Das Himmler-Projekt" als einen Film über die Bonner Republik. Karmakar hat recherchiert, welche 92 SS-Generäle bei der Rede anwesend waren. Im Nachspann werden die Zuhörer "credited". Damit nicht das Publikum im Ganzen als obskure Sekte in die Geschichte entlassen werden kann, skizziert er jede einzelne Biografie: 38 der 92 Anwesenden zählten in der BRD - zum Teil bis hinein in die 80er Jahre - zur Elite.

Karmakars 1992 entstandener Film "Warheads" kann als eine Art vorweggenommenes Sequel von "Das Himmler-Projekt" betrachtet werden. Darin führt der Regisseur ausführliche Interviews mit Fremdenlegionären und Söldnern. Wenn "Das Himmler-Projekt" Kontinuitäten auf der Führungsebene darstellt, dann tut dies "Warheads" auf der Mannschaftsebene. Die Fremdenlegion war für deutsche Soldaten nach dem 2. Weltkrieg etwas Ähnliches wie die Freikorps für die Soldaten des 1.Weltkriegs: Ein Auffanglager für Männer, die ihre Jugend im Krieg verloren hatten, die außer Kämpfen nichts gelernt hatten und deren Identität wesentlich vom Korpsgeist der Truppe geprägt war. Hier konnten sie die unvorbereitete Degradierung zum weichen Zivilisten umgehen und im Schoß der Truppe ihre Soldatentugenden weiter kultivieren.

Viele deutsche Soldaten sind direkt aus der französischen Kriegsgefangenschaft in die Legion gegangen. Die deutsche Hegemonie hatte in der Legion zumindest insofern Bestand, als die Marschlieder aus dem Nazirepertoire stammten und Deutsch in der Truppe die vorherrschende Sprache war. Diese Tradition kulminiert in einer Szene, in der eine multinationale Gruppe von betrunkenen Legionären in Französisch-Guyana "In einem Polenstädtchen ..." singt. Das ist lebendige Geschichte.

Karmakar folgt diesem Typ Mensch bis in den Jugoslawischen Bürgerkrieg. Er lässt die Leute sich selbst darstellen, hört ihnen dabei aber so lang und so interessiert zu, bis die Show vorbei ist. Am Ende haben die Leute ausgeredet und sich ausgesprochen. Die Angst und die Hilflosigkeit werden sichtbar. "Warheads" ist nicht nur eine Art Sequel zum "Himmler-Projekt", der Film könnte auch ein Kapitel in Klaus Theweleits "Männerphantasien" sein.


Gregor Stadlober lebt als Filmemacher, Filmautor und -kritiker in Wien.
gregor.stadlober@gmx.net

www.absolutmedien.de


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