Am 30. August 1954 notierte Heinrich Krone, Parlamentarischer Geschäftsführer
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in sein Tagebuch: "Die französische
Nationalversammlung lehnt die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab.
[
] Hier geht mehr vor sich, als dass nur ein Vertrag abgelehnt wird.
Hier wird eine große Idee verworfen. Ein Anschlag gegen Europa. Ein
schwarzer Tag. Müssen die Europäer die Fahne einziehen?"
Wenige Stunden zuvor hatte
sich die französische Nationalversammlung mit 319 gegen 264 Stimmen für
den Antrag des Abgeordneten Aumeran ausgesprochen, der eine sofortige Absetzung
der Debatte über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
gefordert hatte. Damit war die EVG endgültig gescheitert. Die EVG war
eine französische Idee gewesen; am selben Ort, wo sie vier Jahre zuvor
geboren worden war, war sie jetzt auch zu Grabe getragen worden.
Während sich jene Illusionisten,
die bis zuletzt an ihr festgehalten hatten, noch von dem Schock über
dieses "wichtigste und tragischste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte
Westeuropas" - wie es ein amerikanischer Diplomat formulierte - erholten,
Gegner und Befürworter in Paris nach geschlagener Schlacht ihre Wunden
leckten, behielten als einzige die Briten den Überblick. Im Foreign Office
waren bereits jene Telegramme vorbereitet worden, die Außenminister
Anthony Eden dem Kabinett am Nachmittag des 1. September 1954 mit dem Kommentar
vorlegte: "Jetzt kommt es darauf an, schnell zu handeln, um eine weitere
Verschlechterung der Lage zu verhindern und Vorschlägen von anderer Seite,
die wir nicht für gut halten, zuvorzukommen".
Wie wir jetzt wissen, funktionierte das britische Krisenmanagement hervorragend.
Was in vier Jahren nicht möglich war, geschah nun innerhalb von nur wenigen
Monaten: Die Lösung hieß letztendlich Beitritt der Bundesrepublik
zur NATO, genau das, was die britischen und amerikanischen Militärs ursprünglich
schon 1950 gewollt hatten. Eden schlug weiter vor, den Brüsseler Pakt
vom 17. März 1948 durch den Beitritt Italiens und der Bundesrepublik
zu einer "Westeuropäischen Union" mit einem Rüstungskontrollsystem
zu erweitern, sodass Frankreich darin seine verlangten Sicherheitsgarantien
finden konnte und einen deutschen NATO-Beitritt nicht mehr blockierte und
bereit war, das zu akzeptieren, was es auch mit Hilfe der EVG hatte verhindern
wollen: deutsche Soldaten in deutschen Uniformen.
Waren bisher schon britische und amerikanische Akten zugänglich, die
uns das Verständnis für die Position der Anglo-Amerikaner deutlich
machen, so liegen jetzt erstmals die umfangreichen deutschen Akten zu diesen
Vorgängen vor. 298 Dokumente werden im vorliegenden Band veröffentlicht,
hervorragend bearbeitet von Hanns-Jürgen Küsters. Im ersten Teil
beleuchten die Dokumente die Konferenz der Außenminister der Sechs Mächte
in Brüssel im August 1954, wo vergebens versucht wurde, den französischen
Ministerpräsidenten Mendès-France für ein Einlenken in der
EVG-Frage zu gewinnen.
Mit am wichtigsten war die von Eden organisierte Neun-Mächte-Konferenz,
die vom 28. September bis 3. Oktober in London stattfand und auf der die Grundsatzentscheidungen
für die weitere Entwicklung fielen. Die entsprechenden Dokumente stammen
von der Dienststelle zur Vorbereitung des westdeutschen Verteidigungsbeitrages
und zum großen Teil aus dem Nachlass von Botschafter Herbert Blankenhorn.
Seine Aufzeichnungen sind wunderbar, auch die Beschreibung der Konferenzatmosphäre
und der Akteure dieser Konferenzen. Eden wird beschrieben als "ein etwas
weicher Leiter der Verhandlungen, der sich nicht zu stark mit seinem Willen
aufzudrängen wünscht, wohl auch seiner ganzen Natur nach skeptisch
und etwas zynisch die Schwierigkeiten mit teils amüsierter, teils eleganter,
manchmal auch etwas oberflächlicher Art zu überbrücken versucht".
Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles sei "sehr zurückhaltend,
um den amerikanischen Einfluss nicht zu stark in den Vordergrund zu stellen,
da, wo notwendig aber, sehr eindrucksvoll als der Repräsentant der Weltmacht,
die letzten Endes für das Schicksal der freien Völker entscheidend
ist; und der französische Ministerpräsident Mendès-France:
für Blankenhorn "ein kalter, berechnender, sehr klarer und sehr
willensstarker Mann, der sich vor keinem Hindernis scheut und für sein
Land zweifellos Nützliches leisten wird".
Die rasche Lösung wurde möglich durch ein Höchstmaß an
Kompromissbereitschaft auf allen Seiten - ausgelöst durch den Schock
des 30. August -, durch das Geschick der britischen Diplomatie und durch den
Blick auf die Alternative, nämlich das Auseinanderbrechen der westlichen
Gemeinschaft, verbunden mit der Gefahr, dass Deutschland womöglich in
die Neutralität und dann nach Osten abgleiten würde. Am Ende standen
der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, verbunden mit dem deutschen Verzicht
auf die Herstellung von atomaren, bakteriellen und chemischen Waffen und schweren
Rüstungsgütern, und die Souveränität der Bundesrepublik,
aber auch die vertragliche Verpflichtung der Westmächte, sich für
die Wiedervereinigung einzusetzen.
Eine knappe Einführung des Bearbeiters ergänzt diesen hervorragenden
Dokumentenband. Schade nur, dass sich diese Einführung fast ausschließlich
auf die abgedruckten deutschen Dokumente bezieht, bereits vorhandene Darstellungen
zum Scheitern der EVG und zum Beitritt der Bundesrepublik zur NATO nicht berücksichtigt
werden. Dementsprechend fehlt auch eine Literaturliste.
Rolf Steininger ist ordentlicher Universitätsprofessor und seit 1984 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.
Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck
E-Mail: Rolf.steininger@uibk.ac.at