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Dokumente zur Deutschlandpolitik. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesarchiv. II. Reihe/Band 4: Die Außenminister-Konferenzen von Brüssel, London und Paris 8. August bis 25. Oktober 1954. Bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters, R. Oldenbourg Verlag: München 2003.

von Rolf Steininger


Am 30. August 1954 notierte Heinrich Krone, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in sein Tagebuch: "Die französische Nationalversammlung lehnt die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab. […] Hier geht mehr vor sich, als dass nur ein Vertrag abgelehnt wird. Hier wird eine große Idee verworfen. Ein Anschlag gegen Europa. Ein schwarzer Tag. Müssen die Europäer die Fahne einziehen?"

Wenige Stunden zuvor hatte sich die französische Nationalversammlung mit 319 gegen 264 Stimmen für den Antrag des Abgeordneten Aumeran ausgesprochen, der eine sofortige Absetzung der Debatte über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gefordert hatte. Damit war die EVG endgültig gescheitert. Die EVG war eine französische Idee gewesen; am selben Ort, wo sie vier Jahre zuvor geboren worden war, war sie jetzt auch zu Grabe getragen worden.

Während sich jene Illusionisten, die bis zuletzt an ihr festgehalten hatten, noch von dem Schock über dieses "wichtigste und tragischste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte Westeuropas" - wie es ein amerikanischer Diplomat formulierte - erholten, Gegner und Befürworter in Paris nach geschlagener Schlacht ihre Wunden leckten, behielten als einzige die Briten den Überblick. Im Foreign Office waren bereits jene Telegramme vorbereitet worden, die Außenminister Anthony Eden dem Kabinett am Nachmittag des 1. September 1954 mit dem Kommentar vorlegte: "Jetzt kommt es darauf an, schnell zu handeln, um eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern und Vorschlägen von anderer Seite, die wir nicht für gut halten, zuvorzukommen".

Wie wir jetzt wissen, funktionierte das britische Krisenmanagement hervorragend. Was in vier Jahren nicht möglich war, geschah nun innerhalb von nur wenigen Monaten: Die Lösung hieß letztendlich Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, genau das, was die britischen und amerikanischen Militärs ursprünglich schon 1950 gewollt hatten. Eden schlug weiter vor, den Brüsseler Pakt vom 17. März 1948 durch den Beitritt Italiens und der Bundesrepublik zu einer "Westeuropäischen Union" mit einem Rüstungskontrollsystem zu erweitern, sodass Frankreich darin seine verlangten Sicherheitsgarantien finden konnte und einen deutschen NATO-Beitritt nicht mehr blockierte und bereit war, das zu akzeptieren, was es auch mit Hilfe der EVG hatte verhindern wollen: deutsche Soldaten in deutschen Uniformen.

Waren bisher schon britische und amerikanische Akten zugänglich, die uns das Verständnis für die Position der Anglo-Amerikaner deutlich machen, so liegen jetzt erstmals die umfangreichen deutschen Akten zu diesen Vorgängen vor. 298 Dokumente werden im vorliegenden Band veröffentlicht, hervorragend bearbeitet von Hanns-Jürgen Küsters. Im ersten Teil beleuchten die Dokumente die Konferenz der Außenminister der Sechs Mächte in Brüssel im August 1954, wo vergebens versucht wurde, den französischen Ministerpräsidenten Mendès-France für ein Einlenken in der EVG-Frage zu gewinnen.

Mit am wichtigsten war die von Eden organisierte Neun-Mächte-Konferenz, die vom 28. September bis 3. Oktober in London stattfand und auf der die Grundsatzentscheidungen für die weitere Entwicklung fielen. Die entsprechenden Dokumente stammen von der Dienststelle zur Vorbereitung des westdeutschen Verteidigungsbeitrages und zum großen Teil aus dem Nachlass von Botschafter Herbert Blankenhorn. Seine Aufzeichnungen sind wunderbar, auch die Beschreibung der Konferenzatmosphäre und der Akteure dieser Konferenzen. Eden wird beschrieben als "ein etwas weicher Leiter der Verhandlungen, der sich nicht zu stark mit seinem Willen aufzudrängen wünscht, wohl auch seiner ganzen Natur nach skeptisch und etwas zynisch die Schwierigkeiten mit teils amüsierter, teils eleganter, manchmal auch etwas oberflächlicher Art zu überbrücken versucht". Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles sei "sehr zurückhaltend, um den amerikanischen Einfluss nicht zu stark in den Vordergrund zu stellen, da, wo notwendig aber, sehr eindrucksvoll als der Repräsentant der Weltmacht, die letzten Endes für das Schicksal der freien Völker entscheidend ist; und der französische Ministerpräsident Mendès-France: für Blankenhorn "ein kalter, berechnender, sehr klarer und sehr willensstarker Mann, der sich vor keinem Hindernis scheut und für sein Land zweifellos Nützliches leisten wird".

Die rasche Lösung wurde möglich durch ein Höchstmaß an Kompromissbereitschaft auf allen Seiten - ausgelöst durch den Schock des 30. August -, durch das Geschick der britischen Diplomatie und durch den Blick auf die Alternative, nämlich das Auseinanderbrechen der westlichen Gemeinschaft, verbunden mit der Gefahr, dass Deutschland womöglich in die Neutralität und dann nach Osten abgleiten würde. Am Ende standen der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, verbunden mit dem deutschen Verzicht auf die Herstellung von atomaren, bakteriellen und chemischen Waffen und schweren Rüstungsgütern, und die Souveränität der Bundesrepublik, aber auch die vertragliche Verpflichtung der Westmächte, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen.

Eine knappe Einführung des Bearbeiters ergänzt diesen hervorragenden Dokumentenband. Schade nur, dass sich diese Einführung fast ausschließlich auf die abgedruckten deutschen Dokumente bezieht, bereits vorhandene Darstellungen zum Scheitern der EVG und zum Beitritt der Bundesrepublik zur NATO nicht berücksichtigt werden. Dementsprechend fehlt auch eine Literaturliste.


R. Oldenbourg Verlag

Rolf Steininger ist ordentlicher Universitätsprofessor und seit 1984 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.

Publikationsliste

Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

E-Mail: Rolf.steininger@uibk.ac.at



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