Zu den großen Kontroversen der Südtirolpolitik gehörte lange Jahre die Frage, ob es 1945/46 eine Chance zur Rückkehr des Landes zu Österreich gegeben hat und - wenn ja - ob diese Chance verspielt oder vertan wurde, welche Rolle der damalige österreichische Außenminister Karl Gruber und die Südtiroler Führung auf der einen und der italienische Ministerpräsident Alcide Degasperi auf der anderen Seite spielten, ob Gruber Südtirol "verraten" und gegenüber den Alliierten kapituliert hat und welche Bedeutung das Abkommen hat, das er im September 1946 in Paris mit Degasperi unterzeichnet hat. Dabei ging es jahrelang mehr um politische Glaubensbekenntnisse denn um solide Aktenkenntnis. Immer wieder wurde auch Bruno Kreisky erwähnt, der das Abkommen einmal als ein "einmaliges Dokument österreichischer Schwäche" bezeichnet hatte.
1987 hat der Rezensent erstmals auf der Basis umfassender Akten aus London, Washington, Rom, Wien und Innsbruck eine Arbeit über das o. g. Thema vorgelegt.1 Meine These: Nicht Österreich oder Italien hatten über die Brennergrenze zu entscheiden, sondern die Alliierten. Und die hatten letztlich kein Interesse an einer Grenzveränderung, wollten Italien nicht weiter schwächen, auch wenn nach den Nationalratswahlen in Österreich im November 1945 und der dabei erlittenen Niederlage der Kommunisten in Washington und London über ein Plebiszit in Südtirol nachgedacht wurde. Man sagte Nein, Südtirol geriet frühzeitig in die Mühlen des Kalten Krieges. Angesichts dieser Sachlage machte Gruber das Beste aus dem, was übriggeblieben war, und unterzeichnete das erwähnte Abkommen, das zwar nicht ideal war, aber das Überleben der Südtiroler in einem fremden Staat sicherte, das Thema internationalisierte und 1960 den Gang Österreichs zur UNO ermöglichte.
Michael Gehler vertritt in seinem
Dokumentenband "Verspielte Selbstbestimmung?"2
seit 1996 folgende These: Außenminister Gruber habe die stärkste
"Waffe" der österreichischen Politik, nämlich die Forderung
nach Selbstbestimmung, nicht richtig eingeschätzt und von daher zu früh
aus der Hand gegeben. Er nennt Grubers Politik bis zum Sommer 1946 deshalb
einen "konsequenten Rückzug auf Raten". Ich habe schon damals
die Frage gestellt, wie stark diese "Waffe" Selbstbestimmung wirklich
war.
Die Autorin - 1957 bis 1985 Leiterin des Referats "S" der Tiroler
Landesregierung und inzwischen über 80 - hat sich in den vergangenen
Jahren immer wieder enragiert, zuweilen beinahe bösartig zu den verschiedenen
Arbeiten des Rezensenten zur Südtirolfrage geäußert. Sie hat
auch meine o. g. These abgelehnt. Um so erstaunlicher jetzt die Wertung in
ihrem Alterswerk. Der jugendliche Rezensent - grade mal 60 - wird milde behandelt,
seine These weitgehend akzeptiert, das Gruber-Degasperi-Abkommen positiv gewertet.
Ihrer Meinung nach haben Gruber und die Südtiroler Führung lediglich
ihre Positionen unterschätzt und dabei Chancen verpaßt - was zu
beweisen wäre. Man muß das Thema aus der internationalen Perspektive
sehen und nicht nur aus der engen Tiroler Sicht, um zur Erkenntnis zu gelangen,
die Gruber schon damals formuliert hat: Südtirol war Kleingeld - und
das erste Opfer des Kalten Krieges. Der Hinweis Stadlmayers auf die Saar geht
völlig daneben; in den sechziger Jahren gab es kein Saarproblem mehr
(S. 259).
Erstaunlich das Urteil Stadlmayers zu Gehlers Selbstbestimmungsthese: Sie
hält die Aussichten für eine Volksabstimmung nicht nur für
gering, sondern deren Konsequenzen sogar für gefährlich. Südtirol
wäre angesichts der demographischen Situation mit Sicherheit geteilt
worden. Merke: Alter schützt vor Weisheit nicht.
1
Rolf Steininger, Los von Rom? Die Südtirolfrage 1945/46 und das Gruber-De
Gasperi-Abkommen (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 2), Innsbruck
1987; vgl. ders., Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben
einer Minderheit, Innsbruck-Wien³ 1997.
2 Michael Gehler (Hg.), Verspielte
Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 in US-Geheimdienstberichten
und österreichischen Akten. Eine Dokumentation (Schlern-Schriften 302),
Innsbruck 1996.
Rolf Steininger ist ordentlicher Universitätsprofessor und seit 1984 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.
Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck
E-Mail: Rolf.steininger@uibk.ac.at