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Henning Köhler, Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte, Hohenheim Verlag: Stuttgart, Leipzig 2002.

von Michael v. Prollius

Henning Köhler ist ein streitbarer Historiker. Kurz vor seiner Emeritierung hat er eine Interpretation zur deutschen Geschichte der vergangenen fast 150 Jahre vorgelegt. Sie trägt den provokanten Titel: "Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte“. Umstritten ist diese als "Gegendarstellung" zu Heinrich August Winklers doppelbändiger deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: D"er lange Weg nach Westen". Gewürdigt als "sehr bedenkenswerte Interpretation" 1   hat sie der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker, selbst Verfasser eines Standardwerks zur deutschen Geschichte. 2   Sarkastisch verrissen 3 dagegen wurde sie von dem emeritierten Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, dem Kopf der "Bielefelder Schule", der seinerzeit die überkommene Politikgeschichte bekämpfte und eine neue strukturgeschichtlich orientierte Gesellschaftsgeschichte propagierte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er selbst Ziel der Attacken von Henning Köhler ist. Für Streit ist also gesorgt. Und dass sich vortrefflich über Konzept, Inhalt und Stil dieser Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts streiten lässt, sei nachfolgend aufgezeigt.

Henning Köhler lehrt seit über 30 Jahren Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt ist klassische Politikgeschichte, zumeist anregend, stets spitz, zuweilen sarkastisch dargeboten. Er ist ein Provokateur und Querdenker, der sich selten mit Kritik und Urteilen zurückhält. Ein sperriger, temperamentvoller Mann, der zweifellos Mut hat, zuweilen aber auch versucht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Die dezidierte Ablehnung des von Winkler favorisierten "schillernden Begriffs" (S. 17) "Westen" am Ende der Einleitung (S. 17f.) zeichnet den Weg des Kritikers, zuweilen Nörglers, vor. Die These, Deutschland ähnele heute in vielerlei Hinsicht dem Kaiserreich, bildet die inhaltliche Leitlinie und Darstellungsklammer (S. 19).

Das Ergebnis ist eine Mischung aus Kritik an Forschungspositionen und einer selektiven, chronologischen Politikgeschichte, die den großen Epochen folgt, durch Struktur, Auswahl und Urteil aber keineswegs zum "Mainstream" gehört. Die Vehemenz der Urteile mag die Formulierung "aggressives Ignorantentum" (S. 15) verdeutlichen, mit der Henning Köhler die 1995 in der Bevölkerung verbreitete Meinung, die Zeitgenossen hätten nicht genug Widerstand gegen Hitler geleistet, kommentiert. Als Beispiel für die Versuche der Entzauberung von Legenden steht die "Septemberverschwörung" des Jahres 1938 gegen Hitler durch den Generalstabschef Franz Halder und sein Umfeld, die Henning Köhler als "Phantom" eines Umsturzversuches "ohne verlässliche Quellen" beurteilt. (S. 361ff.)

Die Struktur der Jahrhundertgeschichte wird bestimmt durch eine neue Gesamtinterpretation: Deutschlands Entwicklung läuft nicht auf ein Ziel, einen Status zu, nämlich im Westen anzukommen. Vielmehr gibt es seit der Reichsgründung und Nationalstaatsbildung von 1871 einen Trend oder Kontinuitätslinien, die über alle politischen Zäsuren, Krisen und Kriege hinweg Bestand haben und durch einen historiographisch t"otgeredete[n] Nationalstaat" in den Hintergrund gedrängt wurden. Zu den Verbindungslinien, die in einem zusammenfassenden Überblick in der Einleitung präsentiert werden, zählt Henning Köhler eben den Nationalstaat im Sinne eines starken, stabilen Staates, der nur zeitweise von außen zerteilt wurde. Hinzu tritt die Parlamentarisierung.

Seit der Wiedervereinigung hat sich in diesem Sinne gewissermaßen der Normalfall der innen- und außenpolitischen Konstellation des Kaiserreiches und mit Abstrichen auch der Weimarer Republik wieder eingestellt: "Bismarcks Schöpfung [ist] - wenn auch in veränderter und verkleinerter Form - erhalten geblieben." (S. 12) Belege sind für den Autor eine "Gleichförmigkeit des Lebens", der "zähe Kampf um Besitzstände", das "ausgeprägte Rechtsgefühl", "ein hohes Maß an innerer Spaltung und Zerrissenheit" sowie ein "Dissens in nationalen Fragen" (alle S. 19). Aber auch eine politische Kontinuität in Gestalt der Politikergeneration von Weimar, die das Grundgesetz und das politische Leben prägten, zählt er zu den Kontinuitätslinien. Mit dieser Sichtweise steht er den Interpretationen seines ehemaligen Institutskollegen Arnulf Baring nicht fern. 5

Konsequent erscheint in dieser Interpretation das Verwerfen einer Zweiteilung des 20. Jahrhunderts in eine kriegerische, katastrophale und eine demokratische, stabile Hälfte, innovativ die Ausweitung des 20. Jahrhunderts bis 1871. Eng verbunden ist damit eine klare Abkehr von der Dominanz nationaler Schuld und Scham und damit eine Kampfansage eines Konservativen gegen die so genannten linken Intellektuellen, die den Fehdehandschuh bereits aufgenommen haben.

Die Darstellung setzt ein bei der Reichsgründung und reicht bis zur Wiedervereinigung und dem Ende der Ära Kohl 1998. Die Gliederung in 13 Kapitel folgt einer klassisch politisch begründeten Epocheneinteilung: Kaiserreich (100 Seiten), Weimarer Republik (150 Seiten), Nationalsozialismus (160 Seiten), Nachkriegszeit (70 Seiten), Bundesrepublik (185 Seiten) mit Ära Adenauer (60 Seiten, 25 Seiten Übergang), sozialliberaler Koalition (45 Seiten) und Wiedervereinigung/ Deutschland im Wandel (45 Seiten). Eingestreut wirkt das Kapitel "Geschichtspolitik" (10 Seiten), das tagespolitische Ereignisse der 80er Jahre mit historisch aufgeladenem Hintergrund und die Ablehnung des Nationalstaates durch Historiker kritisch beleuchtet. Die Seitenzahlen verraten den deutlichen Schwerpunkt auf die Kriegs- und Krisenereignisse der Zwischen-, Kriegs- und Nachkriegszeit. Weitgehend bruchstückhaft bleiben DDR-Geschichte und die bundesrepublikanische Geschichte der sozialliberalen Koalition sowie der 80er Jahre und der Wende.

Hinzu kommt, dass Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte weitgehend fehlen - Ausnahme ist die Kultur von Weimar - und in den kursorisch behandelten Forschungskontroversen keine methodischen Ansätze oder Theorien erörtert werden. Hier zeigen sich die Grenzen einer Konzeption, die eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf 700 Seiten sein soll, aber letztlich weniger "Akzentuierung" (S. 19) als vorwiegend eine auf Kritik basierende Interpretation ist. 6

Über die Struktur und die Gesamtinterpretation hinaus bietet die Darstellung im Detail vielfachen Anlass und Gelegenheit zur Kritik. Nachfolgend sei dies auf einige Hinweise beschränkt, die mit der von Henning Köhler aufgeworfenen Kernfrage nach den "Ursachen ... [der] unterschiedlichen Entwicklungen" und einem möglichen "Lernprozess" der Deutschen zusammenhängen (S. 12).

Deutlich fällt Köhlers differenzierte Lageanalyse des Kriegsausbruchs aus, die mit der Schilderung der komplexen internationalen und personalen Gemengelage nicht umhinkommen kann, dem "Griff nach der Weltmacht" (Fritz Fischer) und damit der vermeintlichen Alleinschuld Deutschlands eine Absage zu erteilen. (S. 76ff.) Weniger schlüssig mutet die Beurteilung der Novemberrevolution und der Gründungskrise der Weimarer Republik an. Sie basiert auf einer zu statischen Vorstellung vom Kaiserreich. Die für die politische Ordnung Weimars delegitimierend wirkende Mischung aus Krieg, Revolution, Inflation und Modernisierungsangst ist angesichts der vielfach konstatierten sozialen und kulturellen Tiefenströmungen auch im Hinblick auf das Ende von Weimar keinesfalls als "Unterstellung" (S. 157) zu begreifen. Vielmehr fügen sich Studienergebnisse der 1990er Jahre in die Beurteilung des Ersten Weltkriegs als Urkatastrophe des Jahrhunderts, der Henning Köhler zuvor allein im Hinblick auf die Konsequenzen zugestimmt hatte. Mentalitäts-, Erfahrungs- oder Lokalgeschichte ist nicht seine Stärke. 7

Nachdem der Autor die Hyperinflation kaum streift, Wirtschafts- und Sozialhistoriker werden entsetzt sein, bezeichnet er die Wirtschaftspolitik Brünings als "ohne Alternative" (S. 238ff.). Dies erstaunt insofern, als der Leser nichts über die so genannte Borchardt-Kontroverse um Handlungsspielräume und Zwangslagen der Wirtschaftspolitik erfährt. Köhler scheut sonst Forschungsdebatten nicht. Für Diskussionsstoff wird sicherlich seine Interpretation der Machtübertragung sorgen, die weder Ergebnis eines deutschen "Sonderwegs" noch einer asymmetrischen Demokratisierung sei, sondern vielmehr ohne Zwang "auf den Entscheidungen einiger weniger Persönlichkeiten" beruhte (S. 278). Die überzeugende Darstellung wird leider durch die Ablehnung einer Einbettung in langfristige Strukturmuster als "unscharfes Syndrom" (S. 279) entwertet. Mit der wohlwollenden Charakterisierung der NS-Wirtschaftspolitik bis hin zur unglücklichen Kennzeichnung des Verhältnisses zu den Unternehmern als "pragmatisch" hat er die Chance vertan, mit einer kritischen Sicht das Wachstum und Wohlstand bremsende Agieren der Nationalsozialisten als solches zu entmystifizieren.

Nachdem Henning Köhler eine Vielzahl von Deutungsmustern für die Funktionsweise des NS-Regimes verworfen hat, lässt er den Leser ohne eigenen Erklärungsansatz zurück. Dass das "NS-Regime primär die Diktatur Hitlers" (S. 328) gewesen sei, wirkt seltsam platt und überholt. Zusammen mit der Unterschätzung der Rassenideologie und der kaum begründeten Nivellierung des Rasse- und Vernichtungskrieges wird ihm günstigstenfalls den Vorwurf einer "Unterschätzung" Hitlers und des Nationalsozialismus einbringen. Dass die Deutschen das Kriegsende nicht als Befreiung erlebt, sondern mit Erleichterung aufgenommen haben, ist dagegen längst nicht so absurd wie Hans-Ulrich Wehler andeutet. 8

Die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland ist unauflösbar mit der als "Wirtschaftswunder" bezeichneten Prosperitätsphase vor allem der 50er Jahre und der Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft verbunden. Ursachen, Ausmaß und Auswirkungen sind heftig umstritten. Der Leser erfährt dazu über eine viertel Seite hinaus (S. 496f.) wenig Erhellendes. Ähnlich verhält es sich mit der personalen Kontinuität der NS-Funktionseliten, den "Karrieren im Zwielicht", die zunächst das NS-Regime und dann keineswegs selbstverständlich die BRD stützten. Das Urteil über den "Machtwechsel" - das mangelnde Machtstreben der SPD und ihre den Wähler nicht überzeugende Qualifikation - ist einerseits eine spitze, alternative Sichtweise, die begriffliche Kritik wirkt aber einmal mehr inszeniert (S. 587f.). Die Bezeichnung des von Manfred Görtemaker treffend als "Umgründung der Republik" charakterisierten Regierungswechsels als "unhistorisch" ist nicht nur aufgesetzt, sondern verkennt darüber hinaus die außen-, sozial- und wirtschaftspolitische Tragweite des Regierungswechsels (S. 589).

Die sich anschließende Reduzierung der 80er Jahre auf "Geschichtspolitik" unterschlägt den gesellschaftlichen Klima- und Kulturwandel und die Formierung der Beharrungskräfte des Wohlfahrtsstaates und der Partikularinteressen. In Verbindung mit den nicht thematisierten Herausforderungen, denen sich die Nationalstaaten im "postdemokratischen" Zeitalter der Globalisierung mit strukturellen ökonomischen Herausforderungen, einem Bedeutungsverlust der Parlamente und einer Transformation des Krieges konfrontiert sehen, erstaunt der wenig überzeugende optimistische Ausblick eines ausgeschlossenen "Rückfalls in die dunklen Seiten der Vergangenheit" (S. 685) daher wenig.

Nach der Lektüre überwiegt der Eindruck, dass die sehr selektive Gesamtdarstellung die eigentliche Frage nach den Ursachen von Kontinuität und Wandel nicht klar herauszuarbeiten vermag. Der Verzicht auf Theorien, auf die Verschränkung politischer, sozialer und ökonomischer Entwicklungen macht sich hier negativ bemerkbar. Dadurch klingt die Formel "Deutschland auf dem Weg zu sich selbst" merkwürdig leer, ja tautologisch. Salopp gesagt: Es ist so, wie es ist, und kam so, wie es kommen musste.

Die Jahrhundertgeschichte ist streckenweise spannend geschrieben und richtet sich durchaus an ein breites Publikum. Gleichwohl bekommt der Leser weder ein Handbuch noch ein Standardwerk in die Hand. Voraussetzung für die Lektüre ist eine bereits vorhandene gute Kenntnis der deutschen Geschichte und ihrer unterschiedlichen Interpretationen. Für die Forschung dagegen sind die Analysen zu wenig abgestützt. Zudem wirkt das Entlanghangeln an Forschungsmeinungen, die falsifiziert werden, an aufgeworfenen Fragen, die verworfen werden, zunehmend ermüdend. Das liegt an einer negativen Grundströmung, die Henning Köhler erzeugt. Sein Verdienst besteht darin, Misstrauen gegenüber überkommenen Geschichtsbildern zu wecken. Hinzu kommt, eine neue, gleichsam alte politikgeschichtliche Gesamtinterpretation der deutschen Geschichte eines "langen" 20. Jahrhunderts skizziert zu haben. Inwiefern diese Korrekturen als Alternative akzeptiert oder lediglich als Abrechnung gesehen werden, hängt nicht zuletzt von der Qualität und Unvoreingenommenheit zukünftiger Diskussionen ab.


1 Siehe die Rezension in H-Soz-u-Kult vom 2.1.2003; URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=988.
2 Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999.
3 Unter dem Titel: Flucht ins Ressentiment. Auch Hitler hatte es nicht leicht: Wie uns der Historiker Henning Köhler deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert erklärt, in: Die Zeit, 17.5.2002, Literatur 21/2002; URL:  http://www.zeit.de/2002/21/Kultur/print_200221_p-koehler.html.
4 Viel beachtet wurde Henning Köhler: Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin 1994.
5 Siehe etwa Arnulf Baring: Es lebe die Republik, es lebe Deutschland. Stationen demokratischer Erneuerung 1949-1999, Stuttgart 1999, 264.
6 Manfred Görtemaker benötigte rund ein Drittel mehr Umfang allein für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Heinrich August Winkler doppelt so viele Seiten, allerdings unter Einbeziehung des gesamten 19. Jahrhunderts.
7 Siehe beispielhaft die Lokalstudie von Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998.
8 Siehe Wehler: Flucht ins Ressentiment.
9 Norbert Frei (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main u.a. 2001.


Michael von Prollius:
Unternehmensberater und Historiker in Berlin; Promotion in Wirtschaftgeschichte an der FU Berlin; Lehrbeauftragter zum Themenfeld "Soziale Marktwirtschaft" an der FU Berlin.

Buchveröffentlichung u. a.:
Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003 (zugleich Diss.).

E-Mail: MvP@prollius.de  

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