Mit "Dreck am Stecken" wächst die Haider-Bibliothek um einige Zentimeter weiter.
Der "Gott-sei-bei-uns" der nationalen und internationalen Politik, egal ob
er gerade "weg" oder doch "schon wieder da" ist, ist erneut Mittel- und Ausgangspunkt
medialer und wissenschaftlicher Erörterung.
Der unsägliche "Sager" Haiders im Rahmen des Aschermittwochtreffens der FPÖ in Ried am 26. Februar 2001 (die Rede ist auf den Seiten 228 bis 241 nachzulesen), er verstehe "überhaupt nicht wie, wenn einer Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann" (S. 233), und fortgesetzte Attacken auf den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (vgl. S. 83-86) mündeten schließlich in ein Gerichtsverfahren, welches am 27. Februar 2002 mit einer Ehrenerklärung Haiders Muzikant gegenüber endete (vgl. S. 242 f.).
Die im Rahmen des von Ariel Muzikant gegen den damaligen FPÖ-Bundesparteiobmann und Kärntner Landeshauptmann angestrengten Gerichtsverfahrens erstellten Gutachten liegen nunmehr gedruckt im vorliegenden Sammelband vor (wobei nicht ganz klar ist, ob jeder Beitrag ein - "zäh" zu lesendes - Gutachten ist oder die Gutachten durch kontextualisierende Beiträge zu einem Sammelband erweitert wurden). Die politik- und sprachwissenschaftlichen Beiträge lassen sich kurz und bündig mit dem pointierten Statement des deutschen Linguisten Konrad Ehlich: "Es kann also am antisemitischen Charakter der Äußerungen insgesamt kein Zweifel bestehen" (S. 224), zusammenfassen.
Heribert Schiedel und Wolfgang Neugebauer ("Jörg Haider, die FPÖ und der Antisemitismus", S. 11-31) analysieren den Antisemitismus der FPÖ bzw. Haiders nicht "nur" als Mittel zum Zweck, sondern als "Ausdruck innerster Überzeugung" (S. 11), wobei sich über die Stringenz der Beweisführung Schiedels und Neugebauers freilich diskutieren ließe.
Richard Mitten beschreibt die Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus mit dem Modell des "synkretistischen" Antisemitismus, also - so Meyers Enzyklopädisches Lexikon von 1978 - als eine "Bez[eichnung], die im Laufe einer langen Begriffsgeschichte für sehr unterschiedliche Inhalte verwendet wurde". Auf Österreich bezogen und als österreichische Spezifika des "synkretistischen" Antisemitismus führt Mitten die "Vorherrschaft der katholischen Kirche und die Gestaltung der kirchlich-staatlichen Beziehungen, die Besonderheiten der Nationalitätenfrage in einem multinationalen Reich, die Migration der Juden aus Galizien oder Moravien, die verspätete Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, der Aufstieg und das Versagen des Liberalismus und die Entstehung der politischen Massenbewegungen" (S. 44) an.
Diese Prämissen wird man - freilich unterschiedlich gewichtet - in vielen Ländern Europas finden; warum aus den von Mitten angeführten Einflußfaktoren gerade in Österreich ein Rabiatantisemitismus in "allen Lagern" entstand, beantwortet seine Herleitung jedoch nicht befriedigend.
Pelinka und Wodak schreiben im Vorwort, "die Niederlage der FPÖ" im Wiener Wahlkampf 2001 "kann wohl nicht als direkte Folge von Haiders Mittelwahl eingestuft werden. Sehr wohl lässt sich sagen, dass sich diese neue Qualität für Haider und seine Partei negativ auswirkte." Daß hier der erste mit dem zweiten Satz eher wenig kompatibel ist, daß jeder empirische Beleg für diese Behauptung fehlt, sei zwar angemerkt, soll weiters jedoch nicht im Zentrum der Diskussion stehen. Festzuhalten bleibt der Umstand, daß antisemitische Anspielungen (um bewußt einen "breiten" Begriff zu wählen) in der österreichischen Innenpolitik der Zweiten Republik den antisemitischen Akteuren ganz sicher nicht zum Nachteil gereichten (sieht man von den Herren Hödl und Graff1 ab, die ob ihres eigentümlichen Zungenschlags zurücktraten - bzw. ‚zurückgetreten wurden') - ob zu einem wirklichen Vorteil, bleibt dahingestellt.
Haiders antisemitische Ausfälle, die in der "Aschermittwochsrede" lediglich (schließlich gerichtlich) kumulierten, ansonsten aber einen Vor- und einen Nachlauf hatten, dürften wohl kaum - wie schon sein eigenwilliges Verhältnis zur NS-Vergangenheit - mit der (Wahl-)Implosion der FPÖ kausal zusammenhängen; dafür gibt es weder auf innenpolitischer Ebene noch in der Wählerschaft einen Konsens. Ja, analysiert man die Wähler(weg)ströme von der FPÖ einmal zur Volkspartei (Nationalratswahl 2002), ein anderes Mal zur KPÖ (Grazer Gemeinderatswahl 2003), so ist man eher an den Befund Plassers und Ulrams aus den frühen achtziger Jahren und deren Prognose der Erosion der politischen Lager erinnert.2 Wer von dieser Erosion profitierte, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Hier müßte für den Geschmack des Rezensenten auch eine Haider-Biographie, die nicht diesen, sondern die politische Landschaft gründlich analysiert, ansetzen.
Noch einmal zurück zur Person Haiders: Gerhard Roth bemerkte lakonisch, er habe sich "15 Jahre mit dem Oberösterreicher aus Kärnten befaßt, wie man sieht, war auch mein Leben nicht frei von trostlosen Phasen".3 Ob Haider weiterhin Ausgangs- und Mittelpunkt von mehr oder minder treffenden Analysen sein wird, soll dahingestellt bleiben. Faktum ist, daß es in Österreich eben keinen (oder höchstens einen sehr partiellen) Konsens darüber gibt, daß ein Politiker an NS-Relativierung oder Antisemitismus nicht anstreifen darf.
Für die Herausgeber besteht der Skandal nicht darin, "dass es in Österreich Menschen gibt, die (...) die Tradition des Antisemitismus fortführen", sondern daß Haider von 27 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wurde (vgl. S. 9) - eben.
1
Der Linzer Vizebürgermeister Carl Hödl (ÖVP) warf dem Vorsitzenden des WJC,
Edgar Bronfman, vor, der WJC schlage - in Analogie zu dazumal - nunmehr Kurt
Waldheim ans Kreuz. Michael Graff mußte ob seines Ausspruchs, solange Waldheim
nicht eigenhändig sechs Juden ermordet hätte, sehe er kein Problem, als ÖVP-Generalsekretär
zurücktreten.
2
Vgl. Fritz Plasser / Peter A. Ulram: Unbehagen im Parteienstaat. Jugend und
Politik in Österreich (= Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 2), Wien,
Köln, Graz 1982.
3 Gerhard Roth: Der Streifen Licht
unter der Tür, in: Die Presse vom 1. 2. 2003, S. I ("Spectrum").
Heinz P. Wassermann ist Historiker in Graz.
E-Mail: Heinz P. Wassermann
Buchveröffentlichungen u.a.:
Heinz P. Wassermann (Hrsg.),
Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positionen und Perspektiven
der Forschung (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd.
3), StudienVerlag: Innsbruck 2002.
Heinz P. Wassermann, "Zuviel
Vergangenheit tut nicht gut". Nationalsozialismus im Spiegel der Tagespresse
der Zweiten Republik, StudienVerlag: Innsbruck 2000.