von Ingrid Böhler und Michael Gehler1
(Zeit-)Geschichtsforschung befindet sich in permanenter Informationskrise. Stets läuft sie Gefahr, Relevantes zu übersehen. Einst erblickte man in der Erschließung von Fachliteratur und Quellenbeständen über das Internet einen Ausweg aus diesem Dilemma. Tatsächlich entwickelte es sich in wenigen Jahren zu weit mehr als einem unverzichtbaren Hilfsinstrument für Archivrecherchen und zur Erstellung von Bibliographien. Es ist Rüdiger Hohls Meinung zuzustimmen, dass erst dieses neue Medium die Zunft mit dem Computer (jenseits seiner Funktion als intelligente Schreibmaschine) versöhnte.2
Dabei war die Faszination, die es ausübte, keineswegs kritiklos: Die Klagen über den Datendschungel und eine nicht mehr zu bewältigende Informationslawine lösten jene über den partiellen und umständlichen Zugang zu bzw. lückenhaften Zustand der Informationen rasch ab. Den Informationshungrigen erginge es im Internet wie Durstigen, die aus dem Feuerwehrschlauch zu trinken versuchten. Die über das Internet gesammelten Informationen seien oft dubioser Herkunft und das auf diese Weise zustande gekommene Wissen von Zufälligkeit und Beliebigkeit geprägt. Denn das inhaltliche Chaos, das sich den technischen Prinzipien des Mediums verdankt, erzeugte eine ebenso unsystematische Praxis der Recherche: das Surfen. Zwar waren parallel zum Ausbau des Web (kommerziell orientierte) Suchwerkzeuge entstanden. Selbst bei trickreichem Gebrauch reduzierten sie jedoch die Informationslawine allenfalls auf Schneebrett-Dimension und v.a. verhielten sie sich gegenüber inhaltlichen Qualitätsmerkmalen neutral.
I. Die Virtual Library - ein Relikt aus der Frühphase des WWW
Die traditionellen Informationsvermittlungsinstanzen, die Bibliotheken, sahen sich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, in puncto Internet ihre Vermittlungsfunktion wahrzunehmen. So blieb es in dieser Gründungsphase Anfang/Mitte der 1990er Jahre der Eigeninitiative selbstloser NetzenthusiastInnen überlassen, für verschiedenste Disziplinen bald so genannte Subject Gateways, Fachverzeichnisse, Themenkataloge oder Fachportale aufzubauen.
Ein Teil von ihnen organisierte sich in der Virtual Library (VL)3, dem ältesten Web-Suchdienst, ins Leben gerufen durch Tim Berners-Lee, der auch als Begründer des WWW gilt. Sie ist der Versuch, durch eine lose, auf Freiwilligkeit beruhende Zusammenarbeit von Experten, die jeweils für ein bestimmtes Schlagwort Indices von Webressourcen erstellen, einen Universalkatalog mit akademischer Ausrichtung zu betreiben. Als Zielgruppen, zu denen sich auch die VL Zeitgeschichte bekennt, sollen v.a. WissenschafterInnen, Lehrende und Studierende angesprochen werden. Entscheidend ist, dass die VL von ihren Mitgliedern (=RedakteurInnen) einfordert, nur solche Webressourcen aufzunehmen, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen; um in der VL Zeitgeschichte gelistet zu werden, wird daher der "wissenschaftliche Nutzen", "inhaltliche und fachbezogene Qualität", kurzum Zitierfähigkeit vorausgesetzt.
Für die Geschichtswissenschaften innerhalb der VL befindet sich der "Central Catalogue" - seinerseits ebenfalls der erste geschichtswissenschaftliche Katalog überhaupt - auf einem Server an der University of Kansas.4 Er ist der organisatorische Mittelpunkt eines sich immer feiner verästelnden Netzwerks von international verstreuten Websites, die jeweils ein historisches Teilgebiet, meist bezogen auf einen geografischen Raum, erschließen. Wie das durch den Erlanger Historiker Stuart Jenks koordinierte bundesdeutsche Beispiel "VL Geschichte" zeigt, kann sich ein solcher "Branch" selbständig in weitere Teilaspekte mit weiteren eigenverantwortlichen BetreuerInnen aufteilen.5 Die VL Geschichte, seit 1996 im Netz, besteht derzeit aus dreißig Sektionen. Auffallend spät kam die Zeitgeschichte - in ihrer heutigen Form erst im Sommer 2003 - dazu. Das ehrenamtlich tätige Redaktionsteam, Wigbert Benz, Ralf Blank und Stephanie Marra, setzt sich aus ausgewiesenen "Net Historians" zusammen; das Historische Centrum Hagen, wo Ralf Blank arbeitet, hostet das Unternehmen.
II. Inhaltliches und informationstechnologisches Profil
Die Datenbasis der VL Zeitgeschichte besteht (Mitte Oktober 2003) aus rund 670 Katalogeinträgen. Die erfassten Einheiten bilden - etwa bei den elektronischen Publikationen - auch einzelne Dokumente, zumeist ist das Beschreibungsniveau aber weitmaschiger und setzt erst ab der Ebene von "collections" oder auch der Websites an. Zu jedem Datensatz (= Internetressource) gehört ein kurzer Kommentar, der entweder von den RedakteurInnen stammt oder aus dem Netz übernommen wurde. Andere, strenger formalisierte Metadaten, z.B. "publisher", fehlen.
Wie haben sich nun die drei BetreiberInnen ihr zeitgeschichtliches Sondierungs-Terrain abgesteckt? Zeitlich legen sie sich auf das 20. Jahrhundert (bis zur Deutschen Einheit) fest. Als geografischer Bezugsrahmen gilt Deutschland ("Angebote im Internet zur Neueren und Neuesten Geschichte Deutschlands"). Die Abfrage zeigt aber - z.B. finden sich Datenquellen österreichischer Provenienz zu Arisierungsvorgängen in Wien -, dass die deutschsprachigen Nachbarländer (sie verfügen über keine eigenständige VL!) zumindest dort, wo es historische Berührungspunkte gibt, "mit betreut" werden. Wir stoßen außerdem auch auf englischsprachige Webpages nichtdeutscher Herkunft, die sich z.B. mit allgemeinen militärgeschichtlichen Aspekten des Zweiten Weltkriegs beschäftigen. Natürlich machen solche "Rahmen-Erweiterungen" Sinn. Wie intensiv bzw. nach welchen Gesichtspunkten sie jedoch vorgenommen werden, bleibt im Dunkeln, wie man mangels Erklärungen umgekehrt nur mutmaßen kann, dass in erster Linie WWW-Angebote der deutsch(sprachig)en Zeitgeschichtsforschung gesammelt werden.
Die VL Zeitgeschichte ist ein Katalog - im Unterschied zur Suchmaschine, dem zweiten suchtechnischen Konzept, das es im Internet gibt. Man konsultiert einen Katalog, um sich einen Überblick zu verschaffen (für singuläre Sachverhalte oder mit präzisen Stichwörtern fassbare Themen sind wir z.B. bei Google bestens bzw. besser aufgehoben). Wie bei jedem Katalog dient eine hierarchische inhaltliche Struktur aus Über- und Unterbegriffen, denen die einzelnen Ressourcen zugeordnet sind, zur BenutzerInnenführung.
Mit Blick auf die Vielfalt und Multidimensionalität des Fachs präsentiert sich die Struktur der VL Zeitgeschichte als auffallend wenig komplex. Es sind zumeist lediglich zwei Ebenen vorhanden. Das kommt ihrer Übersichtlichkeit zugute. Die obere Ebene - sie besteht aus 15 Leitkategorien ("Rubriken") - wird bereits auf der Startseite eingeblendet. Es sind sieben chronologische Rubriken vorhanden (Deutsche Kaiserzeit, I. Weltkrieg, Weimarer Republik, "Drittes Reich", Holocaust, II. Weltkrieg, Nachkriegszeit), eine (Varia-)Rubrik mit dem Titel "Themenschwerpunke" enthält Unterkategorien, die sich wie Umweltgeschichte oder Migration nicht in das Epochenschema fügen. Die restlichen sieben Rubriken sind informationstypologisch, d.h. nach der "Textsorte" definiert: "Institutionen", "Quellen", "Hilfsmittel" und "Didaktik" (dass dieser Bereich extra angeführt ist, erscheint angesichts der oben genannten Zielgruppen besonders begrüßenswert) sowie die Medium-spezifischen "Fachportale", "Online-Ausstellungen" bzw. "E-Publikationen". Innerhalb dieser zuletzt genannten Leitkategorie (sowie bei Online-Ausstellungen, Didaktik und Quellen) finden sich nun als Unterkategorien die chronologischen Einteilungen (I. Weltkrieg, Weimarer Republik usw.) wieder.
In der Praxis sind das Ordnungs- sowie Navigationssystem sowohl hinsichtlich der Einstiegsebene als auch der darin enthaltenen, von ihrer Zahl her stets überblickbaren Unterkategorien ("nach methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten gegliedert") leicht verständlich. Auch Neulinge finden sich darin sofort zurecht. Das nähere Hinsehen fördert jedoch gelegentlich Widersinnigkeiten zu Tage. Warum z.B. findet sich die Unterkategorie "Biographische Quellen" in der Leitkategorie "Drittes Reich" und nicht unter "Quellen" (und dort in der ebenfalls vorhandenen Kategorie "Drittes Reich")? Bei solchen Zuordnungs-Unstimmigkeiten macht sich das Fehlen von "cross linking" bemerkbar; ein Datensatz kann nur einmal an einer Stelle in der Verzeichnisstruktur erscheinen.
Ein wenig Abhilfe gegen die Gefahr, deshalb bestimmte Einträge zu übersehen, schafft ein zusätzliches Recherchewerkzeug, eine einfach gehaltene Volltext-Suchfunktion, die sich natürlich nur auf den redaktionellen Teil (nicht auf den Inhalt der gelinkten Webpages!) erstreckt. Darüber hinaus deutet die Tatsache, dass manche Unterkategorien leer sind, darauf hin, dass es sich um ein (mehr oder weniger?) vordefiniertes Klassifikationssystem handelt. Sehr allgemein heißt es darüber in einem Info-Text:
"Leider fehlen gerade im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte qualitativ hochwertige und wissenschaftlich brauchbare Online-Ressourcen. Diese trotz mehrerer Jahre Internet-Nutzung im Bereich der deutschen Geschichtswissenschaft immer noch bestehenden Lücken sind im Katalog ablesbar."
III. Einschätzungen und Überlegungen zum Klassifikationsmodell
Die inhaltliche Gliederung der VL Zeitgeschichte stellt eine Art "Landkarte" oder "Wegweiser" der deutschen Zeitgeschichtsforschung dar. Damit dokumentiert sie nicht nur die genannten "weißen Flecke", sondern v.a. das via Internet Abrufbare. Es darf angenommen werden, dass diese virtuell vorhandene Zeitgeschichte den Entwurf der "Aufstellungssystematik" der virtuellen Bibliothek beeinflusst hat, ebenso dass sie die reale - zumindest in groben Zügen - widerspiegelt. Daneben liefert diese Gliederung aber klare Hinweise auf Fachverständnis, Spezialgebiete und Arbeitsweise von Blank, Benz und Marra.
Insgesamt betrachtet erscheinen die Rubriken und Kategorien der VL Zeitgeschichte als aufschlussreicher Indikator für deutsches Zeitgeschichtsverständnis und deutschen Zeitgeschichtskonsum. Dabei sticht die Selbstbezogenheit als Charakteristikum ins Auge.6 Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die VL Zeitgeschichte, indem sie deutsche Datenquellen über deutsche Zeitgeschichte sammelt, dem geografisch/nationalstaatlich ausgelegten Konzept der Gesamt-VL folgt, ist die Dominanz der Binnenperspektive eklatant. Immer von den Zugriffskategorien ausgehend, schließt diese Art von Zeitgeschichtsvorstellung europäisch-komparative oder transnationale Bezüge schon im Ansatz aus. Den Ordnungsbegriff "Internationale Beziehungen" sucht man vergeblich. So theoriebewusst, methodenoffen und innovativ deutsche Zeitgeschichtsforschung auch sein mag und sich zu präsentieren verstehen kann, thematisch ist sie einfach "sehr deutsch", d.h. vielfach auf sich selbst bezogen und damit fallweise echt provinziell - und das schlägt sich auch in der Anlage der VL Zeitgeschichte paradigmatisch nieder.
Zwar ist unter dem breiten und schwammigen Rahmenbegriff "Nachkriegszeit" von "Alliierter Besatzungspolitik" über "Mauerbau und Grenzbefestigung" bis zur "Wiedervereinigung" [sic!] viel versammelt, was zur deutschen Zeitgeschichte nach 1945 zählt. Ein zeithistoriographischer Mauerfall im Sinne einer post-1989-ausgerichteten, d.h. gegenwartsorientierten Zeitgeschichtsbetrachtung hat aber hier offensichtlich nicht stattgefunden. Das seit mehr als einem Jahrzehnt neue internationale System mit weitgehend veränderter Organisationsstruktur (WTO, OSZE, EU, NATO neu etc.) wird von der Struktur der VL Zeitgeschichte nicht berücksichtigt.
Es finden sich zwar unter "Themenschwerpunkte" als Subkategorien lobenswerterweise "Friedens- und Konfliktforschung" und neben dem viel beachteten Rechts- auch der in der Zeitgeschichtsforschung eher vernachlässigte Linksextremismus, Begriffe wie Fundamentalismus oder Terrorismus sind aber im Selbstverständnis der VL Zeitgeschichte Fremdwörter. Ebenso verhält es sich mit Europäisierung und Globalisierung. Eine Zeitgeschichte im Stile eines "dynamischen Mehrebenensystems"7 ist vom Zugriffsprofil der VL Zeitgeschichte gesehen nur in Ansätzen erkennbar, kann aber in dieser Art von Repräsentation nationaler Geschichtskultur nicht präsent sein, was Ausdruck und Ergebnis eines strukturellen Problems nicht vorhandener Voraussetzungen ist.
Die Zusammenstellung der Rubriken und Kategorien entspricht in etwa dem Befund von Hans-Günter Hockerts zu Beginn der 90er Jahre, in dem er die Zeitgeschichte in Deutschland in Form von Themenfeldern mit "drei Zeitgeschichten" charakterisierte: Die Beschäftigung mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, der [alten] Bundesrepublik als zweiter und der DDR als dritter Zeitgeschichte. Schien dieser "Drei-Sprung" ausgehend von dem alten zeitgeschichtlichen Zweier-Modell ("doppelte Zeitgeschichte" = Weimar-Nationalsozialismus und Bundesrepublik), das Karl-Dietrich Bracher als herausragende Forscherpersönlichkeit der deutschen Zeitgeschichte repräsentierte, geradezu sensationell,8 so kann diese zeithistoriographische Einteilung und Begriffszuschreibung von Zeitgeschichten (in Deutschland oder auch anderswo) aber einer modernen Zeithistoriographie im 21. Jahrhundert kaum mehr genügen, von den Interessen und Bedürfnissen einer jüngeren LehrerInnen- und SchülerInnengeneration gar nicht zu reden.
Die längst schon stattgehabte "vierte Zeitgeschichte" eines politisch geeinten, aber außenpolitisch völlig anders als die alte Bundesrepublik wahrgenommenen Deutschlands, das mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Einheit immer noch sehr ringt, in einem neuen Europa (einem völlig aufgebrochenen Kontinent) ist für die VL Zeitgeschichte und ihr Zugriffsprofil eine terra incognita.
Fixiert auf "Drittes Reich" (kein wissenschaftlicher Terminus, sondern eine geschichtspolitisch motivierte Wortschöpfung und Buchtitel des jungkonservativen Ideologen der frühen 1920er Jahre Arthur Moeller van den Bruck) und Holocaust bewegt sich nahezu alles um die Fluchtpunkte der klassischen Zäsurjahre 1933 und 1945 und ihre "Rezeption". So gesehen scheint es am Eingangsschalter zum Hotel dieser Art von (deutscher) "Zeitgeschichte" nur den Weg zurück bzw. nach unten in das Tiefparterre zu geben: Zweiter Weltkrieg, "Drittes Reich", Erster Weltkrieg und Deutsches Kaiserreich. Die fast sechzigjährige Entwicklung nach 1945 - die an Komplexität nichts zu wünschen übrig lässt - läuft lapidar unter "Nachkriegszeit" und ist bestenfalls noch in der ersten und zweiten Etage anzutreffen. Die VL Zeitgeschichte ist daher ein typischer westdeutscher Flachbau der Nachkriegszeit, dem über das engere deutsche Territorium herausragende Vernetzungszielpunkte fehlen.
Als Beispiele scheinen das militärgeschichtlich welthistorische Entscheidungsjahr 1941 - als der europäische Krieg zum Weltkrieg wurde -, die wirtschaftshistorisch relevanten Jahre 1948 (Währungsreform), 1958 (Römische Verträge und Konvertibilität der europäischen Währungen), das gesellschaftsgeschichtlich und kulturpolitisch weltweit bewegende Jahr 1968 und ihre jeweiligen Folgen in der VL Zeitgeschichte prima vista nicht auf. Dies gestattet natürlich zuerst Rückschlüsse auf Forschungsdefizite und daraus resultierenden Mangel an verfügbarem Material im Internet, aber auch auf die Phantasie derjenigen, die es ordnen.
Deutsche Zeitgeschichte, jedenfalls die institutionalisierte, ist überwiegend Geschichtsschreibung aus west(staat)licher Perspektive mit implizitem Alleinvertretungsanspruch: eine Art Hallstein-Doktrin-Zeitgeschichte, die 1989/90 zur Kenntnis nehmen musste, dass es die DDR auch noch gab. Dies führte in der deutschen Zeitgeschichte zu einer noch stärkeren Wendung nach innen und erschwerte ihre Öffnung für mehr Perspektiven nach außen. Dazu passend gibt es in der VL Zeitgeschichte unter der "Nachkriegsgeschichte" eine "Rezeption der DDR", eine Rezeption der alten Bundesrepublik von außen fehlt aber, wie auch die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt nicht aufscheint. Jüngere deutsche KollegInnen haben bereits die Herausforderungen der Zeitgeschichte im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert erkannt.9 Eine neue, transnational vernetzte HistorikerInnengeneration muss darum aber auch über traditionelle Dokumentations- und Publikationsform hinausgehen und das Internet als Markt und Mittler nutzen. Davon lebt die VL Zeitgeschichte.
IV. Resümee
Kritisch besehen handelt sich es so bei der Rubriken- und Kategorienstruktur der VL Zeitgeschichte um einen in die Jahre gekommenen Blick auf überwiegend ältere und alte Zeitgeschichte (1918-1989), während neue, gegenwartsgeschichtliche Zeitgeschichte vom Zugriffsprofil betrachtet gar nicht existiert. Die VL Zeitgeschichte hat viel getan, es bleibt aber auch noch viel zu tun. An den Rubriken und Kategorien der insgesamt verdienstvollen VL kann man sehen, wie rasch Zeitgeschichte altert, zumal im vergangenen Jahrzehnt nach Ende des Kalten Kriegs. Zugleich werden wir mit dem paradox anmutenden Phänomen konfrontiert, dass ein an sich äußerst modernes und innovatives Medium in der (Zeitgeschichts-)Forschung tendenziell eher konservative bzw. traditionelle Inhalte transportiert.
Bei einem Katalog sind Auswahl und Kommentierung der Daten "Handarbeit". Deren permanente Erweiterung plus die regelmäßige Pflege - Kontrolle der vorhandenen Einträge hinsichtlich mittlerweile eingetretener inhaltlicher Änderungen bzw. Erweiterungen (resource re-checking), Überprüfung der Adressen auf ihre technische Erreichbarkeit (link checking), Entfernen von "broken links", nicht mehr gepflegter Daten (weeding) etc. - stellen für ein ehrenamtliches Redaktionsteam eine große Herausforderung dar. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob die VL Zeitgeschichte "ihr" Thema vollständig dokumentiert; denn dies ist ohnedies ausgeschlossen.
Initiativen wie die VL Zeitgeschichte sind von Pioniergeist und Experimentierfreude getragen, hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit und Mittel sowie - daraus resultierend - ihrer informationstechnologischen Professionalisierung jedoch limitiert. Sie sehen sich mittlerweile nicht mehr allein der "Google-Konkurrenz" ausgesetzt. Auch die etablierten Informationsvermittlungsinstanzen des Wissenschaftsbetriebs haben ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben und das Internet als Aufgabengebiet entdeckt. Mit Mitteln der DFG entsteht an der Humboldt-Universität Berlin Clio-online, das das "zentrale Fachportal für die historischen Wissenschaften im deutschsprachigen Raum" werden soll.10 Angesichts eines solchen Großprojekts ist der VL Zeitgeschichte zu wünschen, dass sie nicht verdrängt wird, sondern in einer Marktnische überlebt. Der Vergleich der Buchhandelskette mit der kleinen Spezialbuchhandlung bietet sich an. Deren Vorzüge - Überschaubarkeit, die zum Stöbern einlädt, ein "Sortiment", das Kenntnisse und persönliche Vorlieben der BetreiberIn widerspiegelt, Überraschungen bereithält etc. - gelten auch für die VL Zeitgeschichte.
1
Bei diesem Text handelt es sich um die ungekürzte Fassung der kürzlich
in den "Zeithistorischen Forschungen" (1/2004, Zentrum für
Zeithistorische Forschung, Potsdam) publizierten Besprechung: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/portal/alias__zeithistorische-forschungen/lang__de/tabID__40208163/Default.aspx>
2
Rüdiger Hohls, Eine (Kurz-)Geschichte des Computers und seiner Nutzbarmachung
in den Geschichtswissenschaften, in: Bärbel Biste/ders. (Hrsg.), Fachinformation
und EDV-Arbeitstechniken für Historiker. Einführung und Arbeitsbuch
(= Historical Social Research/Historische Sozialforschung, Supplement Nr.
12 (2000)), S. 23-50, hier S. 41-45.
3 WWW Virtual Library, 1994-2003.
Last update: Sep 19 2003, <http://www.vlib.org/>
27.10.2003.
4 Lynn H. Nelson, WWW-VL History
Central Catalogue, 6 March 1993, last updated Oct 23 2003, <http://www.ukans.edu/history/VL/>
27.10.2003.
5 Stuart Jenks, Virtual Library Geschichte,
Erstanlage: 27. Dezember 1997 - Letzte Änderung: 27. Juni 2003, <http://www.phil.uni-erlangen.de/~p1ges/vl-dtld.html>
27.10.2003.
6 Sie scheint allerdings
kein deutsches, sondern allenthalben ein europäisches Spezifikum zu sein.
Michael Gehler, Zeitgeschichte zwischen Europäisierung und Globalisierung,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51-52/2002, S. 23-35, hier S. 32 f.,
online unter: <http://www.bpb.de/publikationen/E86BQA,0,0,Zeitgeschichte_zwischen_Europ%E4isierung_und_Globalisierung.html>
27.10.2003.
7 Siehe hierzu die weiterführenden
Fragestellungen in: Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem:
Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler
Arena und Globalisierung (Herausforderungen - Historisch-politische Analysen
12), Bochum 2001, S. 208-220.
8 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland.
Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29-30/1993,
S. 3-19, hier S. 6 f., 19. Dieser Vorstellungswelt der älteren deutschen
Zeitgeschichte immer noch sehr verhaftet: Horst Möller/Udo Wengst (Hrsg.),
Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003.
9 Eckart Conze, Nationale Vergangenheit
und globale Zukunft. Deutsche Geschichtswissenschaft und die Herausforderung
der Globalisierung, in: Jörg Baberowski/ders./Philipp Gassert/Martin
Sabrow, Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart-München
2001, S. 43-65.
Univ.-Ass. Mag. Dr. Ingrid Böhler (Ingrid.Boehler@uibk.ac.at)
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Gehler (Michael.Gehler@uibk.ac.at)
Institut für Zeitgeschichte
der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
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