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Thomas Hanifle, "Im Zweifel auf Seiten der Schwachen". Claus Gatterer. Eine Biographie, Studienverlag: Innsbruck-Wien-Bozen 2005.

von Rolf Steininger


1919 wurde Italien im Vertrag von Saint Germain als Belohnung für seinen Kriegseintritt an der Seite der Alliierten Südtirol zugesprochen. Italien erhielt ein Gebiet, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hatte und das zu 99 % von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt war. Die Südtiroler wurden nun im eigenen Land zu einer Minderheit, und es erging ihnen wie so vielen Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg: Sie wurden in brutaler Weise unterdrückt. Der italienische Faschismus führte eine rücksichtslose Entnationalisierungs- und Italianisierungspolitik durch: Die deutsche Sprache und das Wort ,Südtirol’ wurden verboten, es gab keinen deutschen Schulunterricht mehr, Orts- und teilweise sogar Familiennamen wurden italianisiert, der Anteil der Italiener stieg von rund 8.950 im Jahr 1921 auf rund 80.000 im Jahr 1939.

Dies war schon alles schlimm genug, aber es sollte noch schlimmer kommen: Für die "Achse" Berlin-Rom wurden die Südtiroler geopfert. Hitler und Mussolini beschlossen 1939 die endgültige "Lösung" des Südtirolproblems, die als "Option" in die Geschichte eingegangen ist: Die Südtiroler konnten wählen, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern oder Italiener zu bleiben, mit der Gefahr, irgendwo in Sizilien angesiedelt zu werden. Damals wurden die Südtiroler zu "Optanten" und "Dableibern": 213.000, etwa 86 % der Bevölkerung, optierten für Deutschland, rund 75.000 verließen ihre Heimat in Richtung "Großdeutschland".

Dies war die "unwirtliche" Welt, in die Claus Gatterer 1924 in Sexten geboren wurde. Als Kind und Student erfuhr er die Faschistenpolitik bis zur Option, ein ganzes Leben lang hat er jenes erste Beispiel einer ethnischen Säuberung nicht vergessen. Um überhaupt Deutsch zu lernen und eine höhere Schulbildung zu erlangen, musste man damals in eine von der katholischen Kirche geführte Schule eintreten; die es unter dem Schutz der Lateranverträge zwischen dem Vatikan und dem faschistischen Italien noch gab.

Bis 1943 besuchte Gatterer eine solche Schule. Im selben Jahr wurde Mussolini gestürzt, Italien schlug sich auf die Seite der Alliierten, Norditalien wurde daraufhin von deutschen Truppen besetzt. Um der Einberufung in die Deutsche Wehrmacht zu entgehen, flüchtete Gatterer nach Padua, wo er an der dortigen Universität Deutsche Geschichte und Philosophie studierte. Anfang 1944 kam er zurück nach Sexten, ging dann nach Parma, wo er bis zum Ende des Krieges blieb.

Anfang 1939 hatte Gatterer Friedl Volgger getroffen, einen der prominentesten "Dableiber", der nach dem Krieg, nachdem er aus dem KZ Dachau zurückgekommen war, zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in der neu gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP) wurde. Volgger wurde dann so etwas wie ein Mentor von Gatterer. Drei Jahre lang war Gatterer Pressereferent der SVP, bevor er 1948 nach Innsbruck ging und bei der Tageszeitung "Tiroler Nachrichten" arbeitete. Er blieb dort bis 1957, dann wurde er Redakteur bei den "Salzburger Nachrichten", dann von 1961 bis 1967 bei der Wiener Zeitung "Die Presse". Fünf Jahre lang war er dann freischaffender Schriftsteller, um dann von 1972 bis zu seinem Tod im Jahr 1984 das ORF-Fernsehmagazin "Teleobjektiv" zu leiten. Gatterer gehörte damals zu den prominentesten und bekanntesten Journalisten in Österreich.

Gatterer war und blieb dennoch durch und durch Südtiroler und seiner Heimat zutiefst verbunden, obwohl er – oder gerade weil er – die wichtigste Zeit seines Lebens in Österreich und ab 1956 auch als österreichischer Staatsbürger verbrachte. Die Geschichte und das Geschick dieses Landes hat ihn beschäftigt; und das hat er seinen Lesern immer wieder nahe gebracht.

Der junge Südtiroler Thomas Hanifle hat die erste umfassende Gatterer-Biographie vorgelegt – auf der Basis von Presseausschnitten, privaten Briefen, Gatterers Tagebuch und Interviews. Es ist ein durchaus gelungener, lesbarer Versuch, auch wenn Hanifle zuweilen eine gewisse Distanz zu seinem "Helden" vermissen lässt. So klingt es schon eher seltsam bis befremdlich, wenn Hanifle Gatterer immer wieder bei seinem Vornamen nennt und in die "Du-Form" verfällt.

Was lernen wir von Hanifle? Er macht deutlich, wie wenig der Prophet im eigenen Land galt. Gatterer selbst bezeichnete sich als "Linksaußen" – und Ratschläge eines "Linken" galten wenig im konservativen Südtirol. Gatterer war ein wirklich kritischer Geist, kämpfte in seinen Artikeln gegen den italienischen Zentralismus und die Fortsetzung der faschistischen Italianisierungspolitik, forderte politische Autonomie für Südtirol – und verband dies mit der Forderung nach interner Demokratie und kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Dies als Ansporn und Voraussetzung für ein neues Südtiroler Selbstbewusstsein, das er wiederum als Voraussetzung für ein Miteinander der drei Volksgruppen – die deutschsprachige, italienische, ladinische – betrachtete. Dem stand das fehlende historische Bewusstsein vieler seiner Landsleute im Wege, die in ihm nicht selten einen Nestbeschmutzer sahen.

Mit am interessantesten für die Zeit nach 1945 sind für Südtirol die Jahre 1959 bis 1969: am Anfang Bomben, am Ende das sog. "Paket", Grundlage für eine echte Autonomie. Gatterer war ein erklärter Gegner von Gewalt jeglicher Art. Er war gleichzeitig eine wichtige Bezugsperson für den österreichischen Außenminister Bruno Kreisky. Hier hätte ich mir etwas mehr Informationen über Kreiskys Position gewünscht: Wer hat wen beeinflusst? Wer wusste was von den Bomben und Bombenlegern der "Feuernacht" im Jahre 1961?

Dafür erfahren wir etwas über die Entstehung der zwei wichtigsten Bücher, die Gatterer als freischaffender Schriftsteller verfasste: 1968 seine umfassende Darstellung über den Kampf der Minderheiten gegen Rom und 1969 der autobiographische Roman über seine Kindheit.

Gatterer galt in Österreich als ein herausragender Journalist – weniger in Südtirol. Zumindest bis 1981. In jenem Jahr erhielt er von der Bozner Pressevereinigung und Vertretern der Südtiroler Medien den "Preis der Südtiroler Presse". Gatterer war stolz auf diesen Preis, der gleichzeitig aber auch so etwas wie eine Alibiaktion war. Gatterer blieb sich selbst treu: In seiner Dankesrede sprach er "wider die Einäugigkeit" und über die "Schwierigkeit, heute Südtiroler zu sein", und weiter: "Die Südtiroler kennen ihre Geschichte nur in Bruchstücken. Der Gesamtblick wäre störend, beunruhigend." Gleichzeitig kritisierte er das kurzsichtige Profitdenken, den Ausverkauf und das bedenkenlose Aufgeben kultureller Werte um des ökonomischen Vorteils willen.

Das war zwar alles richtig, aber nicht mehrheitsfähig, damals nicht – und vielfach auch heute noch nicht. Das wird auch deutlich im letzten Satz dieser Biographie, wo Hanifle seine Recherchen in der "Claus-Gatterer Bibliothek" in Sexten beschreibt, wo er das Gefühl nicht loswurde, "dass ich einer der seltenen Gäste seines materiellen und geistigen Erbes bin".


Studienverlag

Rolf Steininger ist ordentlicher Universitätsprofessor und seit 1984 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.

Publikationsliste

Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

E-Mail: Rolf.steininger@uibk.ac.at



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