Mit der Raumfahrt ist die Realisierung
eines uralten Traums des Menschheit verbunden, nämlich zu den Sternen
zu fliegen und den Himmel zu erreichen. "To boldly go where no man has
gone before" lautet eine prägnante filmische Formel für die
Erschließung der unendlichen Weiten.
Schlüsselaufgabe und Grundlage jedweder Raumfahrt ist es, einen Zugang
zum Weltraum zu ermöglichen. Raketen sind dafür das auf absehbare
Zeit wohl einzige geeignete Transportmittel. Deutschland hat in der Raketentechnologie
Pionierarbeit geleistet. Weithin bekannt ist die Revolutionierung der Raketentechnik
durch Wernher von Braun zunächst im "Vergeltungswaffen"-Programm
des Nationalsozialismus, dann im Apollo-Programm der USA. Die Geschichte der
deutschen Raumfahrt reicht also grob von der massiven Unterstützung beim
Bau der so genannten "Wunderwaffen" durch das NS-Regime bis zur
Beteiligung deutscher Technik und Raumfahrer an europäischen und internationalen
Missionen.
Niklas Reinke kommt der Verdienst zu, die erste umfassende Bilanz der deutschen Raumfahrtpolitik unter dem Blickwinkel der "innerstaatlichen Einflussfaktoren und außenpolitischen Interdependenzen", von "ihren Akteuren, Initiativen und Entwicklungen" (S. 15) von den Anfängen bis heute gezogen zu haben. Die Studie des Bonner Historikers verfolgt das Ziel, "die politischen Akteure und Entscheidungsprozesse des deutschen Raumfahrtmanagements, den internationalen Bezugsrahmen und die Projekte deutscher Raumfahrtaktivitäten von ihren Anfängen an aufzuzeigen und systematisch anhand ausgewählter Forschungsfragen zu analysieren". (S. 15)
Niklas Reinke gliedert seine Untersuchung dazu in fünf chronologische Abschnitte. Der Raketenforschung im Nationalsozialismus und den Folgen für die Nachkriegszeit bis 1955 schließt sich die Phase der Entstehung der bundesdeutschen Raumfahrtpolitik bis 1969, die Raumfahrtpolitik der sozial-liberalen Koalition bis 1982, der Wandel des deutschen Raumfahrtmanagements im Rahmen europäischen Autonomiestrebens bis 1990 und schließlich die Raumfahrtpolitik unter neuen Rahmenbedingungen bis 2002 an. Die Analyse endet mit einer resümierenden Betrachtung zentraler Entwicklungslinien und Schlüsselfaktoren bundesdeutscher Raumfahrtpolitik, die zwischen den Polen Selbst- und Fremdbestimmung pendelte.
Eine einhundertseitige Dokumentation der deutschen Missionen und der deutschen Beteiligung an inter- und transnationalen Kooperationen sowie ein umfangreiches Personen- und Sachregister geben der von Hans-Peter Schwarz betreuten Dissertation einen handbuchartigen Charakter. 30 eng beschriebene Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis zeugen zudem davon, dass Niklas Reinke keine Mühen gescheut hat trotz der seiner Ansicht nach wenig umfangreichen wissenschaftlichen Literatur eine quellengesättigte Arbeit zu verfassen.
Schade, dass die Ausstattung zwar wissenschaftlich sehr solide, aber im Hinblick auf das sicherlich breite Kreise ansprechende Thema recht dröge geraten ist (Einband, Fotos, Papier - hoher Preis). Gleichwohl illustrieren zahlreiche Abbildungen, Tabellen, Organigramme und sorgsam ausgewählte Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind, Text und Wollen des Autors wirkungsvoll. Als unverzichtbar erweisen sich zudem die die Kapitel verbindenden Zwischenbetrachtungen; sie rücken das mitunter ermüdende Klein-Klein der wechselnden politischen Einflussnahmen in einen größeren Interpretationszusammenhang.
Im Ergebnis wird deutlich, dass Raumfahrtpolitik weitaus mehr ist als die unlängst in der Öffentlichkeit gewürdigte punktuelle Beteiligung deutscher Technik an Weltraumexpeditionen, z.B. zum Mars. 80 Jahre deutsche Raumfahrtgeschichte, das ist erstens vor allem die vielfältige Verflechtung von Politik, auch als Außen- und Sicherheitspolitik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur im nationalen und nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend internationalen Rahmen. Raumfahrtpolitik gleicht zweitens einem permanenten Gezerre hinter den Kulissen um Einfluss, Konzepte und Ressourcenverwendung, angetrieben von persönlichen Interessen, betrieben als Staatspolitik. Bei aller Diskontinuität deutschen Raumfahrtmanagements lassen sich diese zwei bemerkenswerten Konstituanten aus Niklas Reinkes detaillierter Studie ableiten.
Raumfahrt lässt sich letztlich auch als eine kulturelle Errungenschaft begreifen. Das deutet der Bonner Historiker bereits mit dem lesenswerten Einstieg über die Beziehung zwischen Mensch und Raum(fahrt) - beginnend mit dem babylonischen Gilgamesch-Epos - an.
In Deutschland wuchsen sich die grundlegenden Experimente auf dem "Berliner Raketenflugplatz" in Reinickendorf durch Oberth, Nebel und von Braun mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten zu einem gigantischen Forschungs- und Entwicklungszentrum in Penemünde aus, mit über 6.000 Wissenschaftlern und Ingenieuren sowie 13.000 Hilfskräften. Der Krieg mit der totalen Niederlage, Hitlers wissenschaftliches Unverständnis und der zusammen mit Albert Speer vollzogene "Zickzackkurs" (S. 33) lassen das deutsche Raumfahrtengagement als Fehlstart erscheinen - mit einer Einschränkung, denn der Krieg war auch so etwas wie der Vater der Raumfahrt. Und die Siegermächte rissen sich um die wissenschaftlichen Erkenntnisse und das Personal des "Dritten Reiches". Dabei entwickelten ausgerechnet die USA die Legende von der unpolitischen deutschen Raumfahrt im Nationalsozialismus, um politisch korrekt vom Einsatz der NS-Wissenschaftler profitieren zu können.
Die bundesdeutsche Raumfahrtpolitik entstand unter ungleich beschränkteren Rahmenbedingungen und kam durch den Totalverlust von Wissen, Einrichtungen und Industriekapazitäten einer verspäteten Neugründung nahe. Die zentralen Impulse kamen erneut von der Forschung, allerdings in viel bescheidenerem Ausmaß als noch gut 20 Jahre zuvor, mit rein ziviler Perspektive und internationaler Kooperation. Mit ihrer erfolgreichen Lobbytätigkeit und der engen Verflechtung, etwa mit dem Bundesministerium für Atomfragen, konnte sich die Wissenschaft bemerkenswerterweise gegenüber der Luft- und Raumfahrtindustrie durchsetzen.
Zu einer Koordination der verstreuten und vereinzelten Bemühungen kam es erst unter Verteidigungsminister Strauß Anfang der 60er Jahre. Deutschland drohte zu dieser Zeit den internationalen Anschluss zu verlieren. In der Koordination von Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Politik, dem Schlüssel zu erfolgreicher Raumfahrt, führte die UdSSR weltweit. Die deutschen Bemühungen wurden vorwiegend durch die Verfügbarkeit der Finanzmittel bestimmt und waren primär auf wissenschaftliche Erkenntnisse und erst danach auf deren technisch-wirtschaftliche Nutzung ausgerichtet; Prestige oder militärische Interessen wurden - wie sonst üblich - nicht verfolgt. Die Westintegration und die Zusammenarbeit mit Frankreich und den USA waren weitere wichtige Bestimmungsgrößen.
Die deutsche Raumfahrtpolitik blieb über weite Strecken reaktiv, langfristige Ziele wurden erstmals unter der sozial-liberalen Koalition gesteckt (bemannte Raumfahrt). Gleichwohl bleibt der Wert der bemannten Raumfahrt umstritten. Frankreich hat mit seiner Spezialisierung auf Trägertechnologien (ARIANE) das weitaus prestigeträchtigere und profitablere Segment besetzt. Die mangelhafte Forcierung von Vorhaben lag nicht zuletzt an den historischen Vorbelastungen, dem Mangel an Organisation und Führungspersönlichkeiten, lang andauernden Meinungsbildungsprozessen und wahlbedingten Diskontinuitäten. Die staatlichen Stellen erwiesen sich als weitgehend konzeptionslos.
Möglich wurde die bundesdeutsche Raumfahrtpolitik überhaupt erst durch "die Verflechtung der gemeinsam aufgetretenen, unabhängigen und oft sehr unterschiedlichen Interessen von Forschung, Industrie und Politik sowie den fiskalischen Handlungsspielraum und das international bereits in Grundzügen dokumentierte technologische Know-how". (S. 125) Nur in den 80er Jahren gestalteten bundesdeutsche Überlegungen wesentlich Visionen der Raumfahrt mit. Das Weltraumlabor Spacelab beurteilt Niklas Reinke als wichtiges Integrationsprojekt Europas. Eine integrierte europäische Raumfahrtpolitik steht gleichwohl aus.
Die deutsche Raumfahrtindustrie erlebt bis heute einen erheblichen Konzentrationsprozess. Die wissenschaftliche Spezialisierung hat zu Schwerpunkten wie der Weltraumastronomie und solar-terrestrischen Beziehungen geführt. Die Gründung der privatrechtlichen Gesellschaft mit hoheitlichen Rechten DARA (Deutsche Agentur für Raumfahrt) steht als zukunftsträchtiger Reformschritt am Anfang einer Reihe von Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, die mit den Bereichen Bahn, Post und Telekom weit über die Raumfahrt hinaus richtungsweisend waren.
Nach wie vor fehlt es den bundesrepublikanischen Bemühungen, nicht zuletzt angesichts einer Verdopplung des Budgets in den 80er Jahren, an einer kohärenten Strategie. Bedeutsam ist dies auch insofern, als Staaten mit dem Anspruch, global Einfluss zu nehmen, des unabhängigen Zugangs zur Nutzung von Satellitenkommunikation, Erdbeobachtungssystemen und Startsystemen bedürfen (S. 316).
Ob Raumfahrt "stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung transportiert werden [muss]" (S. 439), darüber lässt sich streiten: Privatisierung versus staatliche Kulturaufgabe lautet die Herausforderung. Beiden Lösungswegen ist eine gesellschaftliche Leistung von zeitloser, die Zeit überdauernder Qualität zuzutrauen. Voll zuzustimmen ist dem Hinweis zum Schluss der empfehlenswerten Studie. Bei allem Blick zum Himmel, sollten die Erde und die hier zu lösenden Probleme nicht außer Acht gelassen werden.
Michael von Prollius:
Unternehmensberater und Historiker in Berlin; Promotion in Wirtschaftgeschichte
an der FU Berlin; Lehrbeauftragter zum Themenfeld "Soziale Marktwirtschaft"
an der FU Berlin.
Buchveröffentlichung u. a.:
Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente
Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003 (zugleich Diss.).
E-Mail: MvP@prollius.de