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Norman G. Finkelstein, The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering. Verso: New York - London 2000.

Von Sebastian Markt


shakedown/showdown

shakedown, lese ich in meiner Ausgabe von Langenscheidts Großem Schulwörterbuch, bedeutet im amerikanischen Slang soviel wie "Ausplünderung" oder "Erpressung". shakedown ist das Attribut, das Norman Finkelstein in seinem im Juli 2000 erschienenen Buch "The Holocaust Industry - Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering" den jüngsten Bestrebungen zur Entschädigung von jüdischen Opfern des NS-Regimes zukommen läßt. Diese Kategorisierung, um die Stammtischtauglichkeit des amerikanischen Begriffs zu bewahren, vielleicht mit "Abkassieren" zu übersetzen, führt ins Zentrum der Debatte, die Finkelsteins jüngste Veröffentlichung in den USA ausgelöst hat und die das für das Frühjahr 2001 geplante Erscheinen der deutschen Übersetzung bei Piper voll in Gang bringen wird, wo sie unter anderen Vorzeichen bereits begonnen hat.

Norman Finkelstein, 1953 in Brooklyn geborener Sohn zweier Überlebender des Warschauer Ghettos und mehrerer Konzentrationslager, der gegenwärtig ein Lektorat im Department of Political Science des Hunter Colleges an der City University of New York innehat, wurde 1998 einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er in der gemeinsam mit Ruth Bettina Birn verfaßten Attacke "A Nation on Trial" der Goldhagenkritik eine antizionistische Note verlieh.


Argumente?

Sein neuer Essay stellt in mehrfacher Hinsicht eine Fortschreibung der dort begonnenen Thesen dar. Im ersten Teil, "Capitalizing the Holocaust" überschrieben, argumentiert Finkelstein, daß amerikanisch-jüdische Eliten die Erinnerung an den Holocaust, die sie in der Nachkriegszeit unterdrückt hätten, um den US-Bündnispartner Deutschland im Kalten Krieg nicht zu verärgern, nach dem Sechstagekrieg 1967 für sich entdeckt und zu einer ideologischen Waffe geformt hätten, mit der von nun an Kritik am Vorgehen Israels, jetzt "Vorposten des US-Imperialismus im Mittleren Osten", abgeschirmt werden sollte. So sei "The Holocaust", in Großbuchstaben, als ideologisches Konstrukt entstanden, den Finkelstein vom Holocaust als geschichtlicher Tatsache unterscheidet.

Zwei Grundthesen unterstellt Finkelstein dem "Holocaust" im nächsten Teil "Hoaxers, Hucksters and History"; einerseits: die These von der Singularität des Holocausts, andererseits die These, daß der Holocaust den Höhepunkt eines irrationalen und ewigen Judenhasses markiere. Letztendlich würden beide Thesen, deren krasseste Ausformungen er in den Reflexionen Ellie Wiesels findet, eine säkulare Version des Dogmas von der Auserwähltheit des jüdischen Volkes darstellen, welche in einer Art und Weise formuliert sei, in der sich jegliche Kritik als "Revisionismus" darstellen läßt. Um zu demonstrieren, mit welchen Mitteln dabei gearbeitet wird, dreht sich seine Argumentation vor allem um die (gefälschten) Erinnerungen von Binjamin Wilkomirski und Daniel Goldhagens Untersuchung zu den Zusammenhängen zwischen Judenmord und Antisemitismus in der deutschen und österreichischen Bevölkerung, die er als mindestens ebensogroßen Humbug ansieht. Neben persönlichen Attacken gegen Ellie Wiesel, den Finkelstein als die Gallionsfigur der "Holocaust Industry" zu erkennen meint, richtet sich seine Kritik vor allem gegen Organisationen wie die Antidefamation League, den American Jewish Congress, Institutionen wie das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, das United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC oder die israelische Gedenk- und Forschungseinrichung Yad Vashem, aber auch gegen das gesamte akademische Fach der "Holocaust Studies", die alle einen Teil der "Holocaust Industry" darstellen.

Im letzten Teil "The Double Shakedown" untersucht Finkelstein schließlich die Entschädigungsverhandlungen vor allem gegen Schweizer Banken und deutsche Industriebetriebe und kommt zum Schluß, daß es sich dabei um eine ungerechtfertigte Erpressung seitens jüdisch-amerikanischer Organisationen handeln würde, denen er in einer waghalsigen Rechnung vorwirft, HolocaustleugnerInnen zuzuspielen, da die Verhandler und Anwälte aus Profitgründen die geschätzte Zahl der Überlebenden in die Höhe getrieben hätten, was den Rückschluß zuließe, daß die Bedingungen in den Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern ja gar nicht so schlimm gewesen sein könnten. Das Gedenken an die "wahren" Opfer", so Finkelstein, könnte nur gerettet werden, wenn der "Holocaust Industry" das Handwerk gelegt wird.


Debatten!

Finkelsteins Buch schlug ein. So gut wie alle größeren Zeitungen haben Rezensionen von "The Holocaust Industry" veröffentlicht, eine Auswahl davon (die freundlicheren) findet sich auf Finkelsteins Homepage. Im Archiv der geisteswissenschaftlichen Internetplattform H-net bekommt man auf das Stichwort "Finkelstein" knapp 500 postings geliefert. Und auch im englischen Sprachraum wird das Buch von Revisionisten gepriesen: so hat beispielsweise David Irving auf seiner Homepage ein Dossier angelegt.

In der Debatte - oder besser den Debatten laufen verschiedene Fäden zusammen. Was den meisten zugrunde liegt, ist die Diskussion zu den Überlegungen, die jemanden dazu bringen, Restitutionsverhandlungen als "Abkassieren" zu qualifizieren.

Einer der häufigsten (fachinternen) Kritikpunkte an Finkelstein ist der Vorwurf der Ungenauigkeit und Verdrehung von Tatsachen. (Einige solcher Kritikpunkte faßte Jay Rainer in einem Artikel im Observer kurz nach der Veröffentlichung des Buches zusammen.) Verbunden ist diese Bemängelung oft mit dem Verweis auf bereits vorhandene, ausführlichere und (im Gegensatz zu Finkelstein) auf eigener Quellenrecherche beruhende Studien, vor allem Peter Novicks "The Holocaust in American Life" (Houghton Mifflin, Boston 1999) sowie Tom Segevs "Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung." (Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg, 1995). Beide, Segev und Novick, haben in ihren Untersuchungen zum Umgang mit dem Holocaust in Israel und den Vereinigten Staaten die Verknüpfungen von Politik und Erinnnerung kritisch unter die Lupe genommen und das Verkommen von "Auschwitz" zur Metapher kritisiert, ohne in monokausale Erklärungen zu verfallen, wie Finkelstein dies tut.

Der Historiker Omer Bartov wirft Finkelstein in seiner Besprechung in der New York Times vor, eine Verschwörungstheorie aufzubauen und in derselben Weise mit Übertreibungen, Gleichgültigkeit gegenüber historischen Fakten, inneren Widersprüchen und dem Gehabe moralischer Überlegenheit aufzutreten, wie er dies seinen GegenerInnen vorwirft.

Aus dem Bereich der Holocaustforschung wurde kritisiert, daß das Bestehen auf der Einzigartigkeit des Holocausts nicht, wie Finkelstein behaupte, auf eine ahistorische Sakralisierung hinausläuft, sondern daß es gerade einer Kontextualisierung des Verbrechens mit den Vorraussetzungen in der Gesellschaft des Dritten Reichs bedarf, um die Vorgänge verstehen zu können. Yehuda Bauer, Direktor des Center for Holocaust Research in Yad Vashem und eine der Personen, die Finkelstein in "The Holocaust Industry" angreift, wies in einem Vortrag, den er am 21. November 2000 im New Yorker Center for Jewish History hielt, darauf hin, daß es in der These von der "Singularität" keineswegs um die Einzigartigkeit des Leids der Opfer gehe, sondern daß die Shoah sich vor allem durch drei Punkte von anderen Genoziden unterscheide: Der "moderenen", industriellen und rationellen Art der Vernichtung, dem Umstand, daß der Völkermord nicht von Pragmatik, politischem oder finanziellem Kalkül motiviert war, sondern als notwendige Voraussetzung die ideologische Motivation des Antisemitismus hatte; und damit eng verknüpft, daß dieser Massenmord als vollständiger und ausschließlicher angelegt war.

Mit der Abqualifizierung jener Forschungsrichtung, die sich, angefangen mit Maurice Halbwachs, um die Kategorie "Erinnerung" formte und für die Ideologie keineswegs ein Fremdwort ist, gibt Finkelstein eine Möglichkeit aus der Hand, die komplexe Entwicklung des Diskurses um die Shoah genauer zu analysieren, er bleibt auf der positivistischen Teilung zwischen Tatsache und ideologischer Verdrehung stehen, der er dann noch, wie Omer Bartov feststellt, selbst widerspricht, wenn er meint:

"however, I remain convinced that it is important to preserve - to fight for - the integrity of the historical record. [?] Yet I think that to do so, to truly learn from the Nazi holocaust, its physical dimension must be reduced and its moral dimension expanded." (The Holocaust Industry, p 8)

 

Verzogene Perspektiven

Deutlich sieht man Finkelstein die amerikanische Perspektive an; seine Argumentation läßt sich in den dortigen Debatten zur Rolle des amerikanischen Judentums und dem teilweise damit verbundenen antizionistischen Rekurs verorten. In seiner Anklage gegen das "Jüdische Establishment" verliert er den historischen Kontext, der viele der von ihm angeschnittenen Punkte umgibt. Finkelstein kritisiert die Ausdehnung des Begriffs "Survivor", der sich ursprünglich nur auf KZ-Überlebende bezog, und erklärt diesen Vorgang mit den finanziellen Interessen der "Holocaust Industry". Was er nicht sehen will, ist, daß dieser Vorgang das Resultat von langjährigen Versuchen anderer Opfergruppen gewesen ist, Gruppen wie  EmigrantInnen (denen in Österreich vorgeworfen wurde, den Krieg bequem und sicher "in Clubsesseln in New York" verbracht zu haben, während die "Zivilbevölkerung" unter dem alliierten Bombenhagel gelitten habe), ZwangsarbeiterInnen, aber auch Strafgefangenen, Euthanasieopfern usw., die alle materiellen, psychischen und physischen Schaden durch das NS-Regime erlitten hatten, aber in der Nachkriegszeit keineswegs als Opfer anerkannt wurden, sondern oft weiterhin mit Vorurteilen und Repressionen konfrontiert wurden. Ebensowenig scheint er zu wissen, daß es sich bei den Verhandlungen um die Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen nicht hauptsächlich um JüdInnen dreht, sondern vor allem um nichtjüdische Opfer aus Osteuropa. Gerade bei der Frage der Entschädigungen wird aber Finkelsteins verzogene Perspektive und das völlige Ausblenden des Kontextes offenkundig, in dem diese Abläufe in den "Täterländern" standen und stehen: Was Finkelstein vor allem übersieht, sind die jahrelange Blockadehaltung von Regierungen und Industrie gegenüber Entschädigungsansprüchen und die Tatsache, daß nach langen und vergeblichen Versuchen erst außenpolitischer und ökonomischer Druck den Opfern die Möglichkeit verschaffte, in ihren Forderungen gehört zu werden.

 

Rezeption?

In Deutschland und Österreich dauerte es auch nicht lange, bis man auf das Buch aufmerksam wurde. Bei amazon.de rangieren die englische Originalausgabe und die noch gar nicht erschienene deutsche Übersetzung jetzt schon auf Platz eins und drei der Bestsellerliste in der Sparte "Holocaust". Noch vor der Erstveröffentlichung bekam es bereits Lob von der Jungen Freiheit, Ernst Nolte klopfte Finkelstein für soviel aufrichtige Selbstkritik anerkennend auf die metaphorische Schulter und Anfang Oktober titelte die Nationalzeitung: "Ein Jude spricht die Deutschen frei". Wegweisend scheint auch die Rezension Lorenz Jägers in der FAZ, der vorausschauend über die Tiefe von Finkelsteins Anschuldigungen staunt, die "weit über das vage Unbehagen, das man gelegentlich in Deutschland wahrnimmt", hinausginge, als ob das antisemitische Stereotyp von den Juden, die aus Profitgier Holocaustcaustopfer posthum ausbeuten, etwas Neues und vor allem in Deutschland noch nie Gehörtes wäre.

Waren unter den bisherigen Thematisierungen im Feuilleton kritische Stimmen zu hören, die auf Fehler in Finkelsteins Argumentation hinwiesen, (etwa Ulrich Herberts Antwort auf Finkelstein in der Süddeutschen Zeitung, die unter anderem Finkelsteins Zahlenspiele bei der Frage nach noch lebenden ZwangsarbeiterInnen untersucht), so darf man, was die breitere Rezeption des Buches betrifft, skeptisch sein.

Tjark Kunstreich merkt in seiner Replik auf eine Rezension von Alexander Ruoff in der Jungle World an, daß Affirmation keiner offenen Zustimmung bedarf. Er kritisiert den Verlust an kritischem Gehalt von Begriffen wie Instrumentalisierung und Singularität und meint, daß die Diskussion Finkelsteins als eines überzogenen Polemikers schon den Keim der Akzeptanz seiner Prämissen einschließt.

Vor dem spezifischen Kontext des Diskurses in den Tätergesellschaften fallen noch andere Aspekte an Finkelsteins Text auf: Die "Walserisierung" des Diskurses scheint kein deutschsprachiges Phänomen mehr zu sein, so kann man bei Finkelstein Begriffe wie "Holocaust industry gun" (The Holocaust Industry, p 139) oder "ideological club" (The Holocaust Industry, p. 149) lesen. Und in der Vorstellung seiner Thesen für die Süddeutsche Zeitung schreibt Finkelstein im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Restitution in Deutschland, Österreich etc. von "Unzufriedenen", die "durch ,political correctness' zum Schweigen" gebracht werden. War Walser ein zorniger Schriftsteller, so tritt Finkelstein als Wissenschafter an und liefert scheinbare Beweise.

Gerade in Deutschland und Österreich war die Konjunktur von Themen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus in letzter Zeit eng mit Begriffen wie "Schlußstrich" und "Normalisierung" verbunden, das "Gedenken" verdankte seine Prominenz also oft seiner Denunziation. Das vergangenheitspolitische Rollback, das Bundeskanzler Schüssel mit dem Aufwärmen der österreichischen Opferthese in Gang gesetzt hat, ist nur ein weiterer Beleg dafür, daß Zugeständnisse, die in den letzten Jahren widerwillig, aber doch in Form von Denkmälern, Entschädigungszahlungen und so weiter geleistet wurden, vor allem dazu dienen sollen, sich das Vergessendürfen und die "Rückkehr" zu einer diffusen "Normalität" zu erkaufen.

Der wohl schwerwiegendste Aspekt von Finkelsteins Argumentation ist seine Unterstützung der seit jeher von österreichischen und deutschen Normalisierern vertretenen Schuldumkehrthese: Am Antisemitismus sind die JüdInnen (mit)schuld. Finkelstein versieht diesen revisionistischen Allgemeinplatz mit Fußnoten und hängt ihm so den Mantel der Wissenschaftlichkeit um. Dabei bleibt es nicht, denn Finkelstein bemüht sich, ein Bild von vernetzten Lobbys und Eliten zu zeichnen, das eindeutig verschwörungstheoretische Züge trägt.

"Weil die Juden ökonomisch erfolgreich sind und in Industrie und Medien viel Einfluß ausüben, machen sie oft den Fehler, zu vergessen, dass sie nur eine winzige Minorität sind. Und Zahlen sind wichtig. Als kleine Minderheit kann man sich nicht so rücksichtslos verhalten und glauben, dass man nicht irgendwann einen Preis dafür zahlen muss."

Nein, Schotterkönig Asamer hat keinen Rhetorikkurs besucht. So drückt sich ein "scholar of rare integrity" (wie Norman Finkelsteins Homepage vermerkt) aus, zitiert von der Schweizer Sonntagszeitung in einem Interview, das man auf der Homepage der rechtsextremen Staatsbriefe nachlesen kann. Geantwortet hat er auf die Feststellung "Das gängige Argument lautet, am Antisemitismus sind nicht die Juden schuld, sondern die Antisemiten." Bedenkt man das gegenwärtige Klima, das Diskussionen über Nationalsozialismus und Shoah hierzulande umgibt, kann die Einschätzung Herberts, das Buch könnte eine notwendige Rekontextualisierung des Holocausts provozieren, kaum geteilt werden. Aus Statements wie diesem dürfte wohl klar hervorgehen, daß Norman Finkelstein, der nicht müde wird, auf den Umstand hinzuweisen, daß er Sohn von Holocaust-Überlebenden ist, eine Karriere als jüdischer Kronzeuge Nummer eins des vergangenheitspolitischen Rollbacks bevorsteht. Nach Mahnmals- und Walser- und Kosovokriegsdebatte darf man auf eine neue Runde im Normalisierungsshowdown warten.


Sebastian Markt studiert Geschichte und Philosophie in Wien und arbeitet zur Zeit im Rahmen seines Zivildienstes (Gedenkdienst) an einem Projekt zur Dokumentation der Lebensgeschichte von jüdischen EmigrantInnen in den USA.
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